Als Einziger: Quengeln und quatschen im Quod

Anfang der 80er Jahre eröffnete im Südviertel das „Quodlibet“. Alle nannten diese Kneipe nur „Quod“.
Zunächst befand sich das „Quod“ im Eckhaus bei der Einmündung der Gutenbergstraße in die Frankfurter Straße. Später zog es 100 Meter weiter stadteinwärts und eröffnete einen Biergarten an der Jägerstraße. Damit ist die Kneipe „Am Grün“ heute wohl das einzige Lokal mit Biergarten mitten in der Innenstadt.
Das ursprüngliche „Quod“ an der Gutenbergstraße wurde schon bald nach seiner Eröffnung zur Stammkneipe der „Marxistischen Gruppe“ (MG). Damit war die Kneipe für die MG das, was der „Wal“ für die DKP war, wenngleich man weder die beiden Kneipen miteinander gleichsetzen kann, noch die beiden Gruppen. War die Deutsche Kommunistische Partei (DKP) dem sogenannten „real existierenden Sozialismus“ zugeneigt, so war die MG die fundamentalistischste aller Hochschulgruppen in Marburg.
Zudem war die MG die kleinste „linke“ Gruppe an der Philipps-Univrsität. Nicht wenige sprachen ihr das Etikett „links“ sogar ab und bezeichneten sie als „reaktionär“. Begründet wurde das mit ihrer fundamentalistischen Grundhaltung, mit der sich die Mitglieder wie eine Sekte rechthaberisch einmauerten.
Zur Mitgliedswerbung zogen sie am Fachbereich „Gesellschaftswissenschaften und Politik“ von Seminar zu Seminar und diskutierten. Ihre oft scharfsinnigen Analysen der kapitalistischen Zustände führten indes nie zu einem praktischen Ergebnis, sondern höchstens zum Anschluss einiger Mitleidigen an die Gruppe und ihrem behaglichen Einrichten dort in der Gewissheit, über die „einzig wahre Erkenntnis“ zu verfügen. Zugleich richteten sie sich im real existierenden Kapitalismus ein und machten Karriere in der Hoffnung, irgendwann einmal aus guten Positionen heraus aktiv werden zu wollen.
Im Vorfeld der großen Friedensdemo am 10. Juni 1982 in Bonn behauptete die MG, diese Demonstration diene nur der Aufrechterhaltung der kriegstreiberischen NATO. Demonstrieren legitimiere den kapitalistischen Staat. Darum dürfe man nicht auf die Straße gehen, weil man damit nur zu den kritisierten Verhältnissen beitrüge.
Darüber wollten sie in einer Vorlesung diskutieren, in der mein Kumpel „Kasi“ saß. Der Professor stimmte über das Ansinnen der MG ab; und die Mehrheit lehnte die sinnlose Debatte ab. Daraufhin erklärte der Wortführer der MG, Mehrheiten interessierten ihn nicht, denn der NATO-Doppelbeschluss sei ja auch mit einer Mehrheit vom Deutschen Bundestag beschlossen worden.
„Ich bin nur ein Einziger“, meldete sich daraufhin Kasi zu Wort. „Ich möchte jetzt hier über Marmorkugeln diskutieren. Kein Anderer hier will über Marmorkugeln diskutieren; und damit habe ich als Einziger nach Eurer Logik ein größeres Recht auf mein Thema als Ihr auf Eure Diskussion.“
Alle Anwesenden lachten laut über Kasis Marmorkugeln. Mit hochroten Köpfen verließ die MG den Hörsaal.
Ihren Frust ertränkten die MGler abends im „Quod“. Dort trafen sie auf viele andere Gäste unterschiedlichster politischer Provenienz. Von der MG allein hätte das „Quod“ angesichts der geringen Größe der Gruppe garantiert nicht überleben können.
Wenn das Lokal voll war, standen einige Gäste an lauen Frühlings- und Sommerabenden mit einem Glas Bier auf der Steintreppe vor der Tür. Drinnen dämpfte ein Teppichboden die Lautstärke der Gäste, die an kleinen runden Tischen auf bequemen Sesseln saßen und sich unterhielten oder angeregt diskutierten.
Nach einem Besitzerwechsel des „Quodlibet“ wechselte die – immer weiter schrumpfende – MG ins „Grünhaus“ an der Einmündung der Mauerstraße in die Neue Kasseler Straße. Das „Quod“ jedoch gedieh an gleicher Stelle prächtig weiter. Zumindest bis zu seinem Umzug und der Erweiterung um den Biergarten war auch das „Quodlibet“ eines der legendären Lokale in Marburg.

* Franz-Josef Hanke