Am Sonntag (15. Mai) wählt der Kreis eine neue Landrätin oder einen Landrat. Auch dafür gibt es wieder Wahlschablonden für Blinde.
In die Schablone können blinde Wählerinnen und Wähler den Wahlzettel
einlegen. Mit tastbarer Brailleschrift sind die sieben Löcher markiert, wo die Wählenden ein Kreuz für ihre jeweilige Wunschkandidatin oder ihren Wunschkandidaten auf dem Wahlschein machen können. So können Wahlberechtigte trotz einer Sehbeeinträchtigung ohne fremde Hilfe frei und geheim ihre Stimme zur Landratswahl 2022 im Landkreis Marburg-Biedenkopf abgeben.
In Marburg sind solche tastbaren Wahlhilfen für Blinde inzwischen absolut selbstverständlich. Nicht nur für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen ist das „die gute Nachricht der Woche“. Von der sozial geprägten Atmosphäre in der mittelhessischen
Universitätsstadt profitieren letztlich alle hier.
Dank mehr als 100 Jahren Erfahrung mit der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) ist Marburg nicht nur „Die Stadt der Blinden“ und mittlerweile auch der Sehbehinderten, sondern eine zugleich achtsame und tolerante Umgebung für Menschen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen. Bereits durch die Heilige Elisabeth mit einem starken sozialen Bewusstsein geprägt, hat die mittelhessische Universitätsstadt sich seither immer weiter entwickelt zu einer Metropole des freiheitlichen Denkens und der Solidarität. Auch die Bundesvereinigung Lebenshilfe (BVLH) hat der gebürtige Niederländer Tom Mutters 1958 nicht ohne Grund gerade in Marburg gegründet.
Allerdings hatte es in den Jahren zuvor auch fürchterliche Rückschläge gegeben. Bereits vor der Vereidigung Adolf Hitlers als Reichskanzler war die Philipps-Universität eine Hochburg deutschnationaler und faschistischer Gesinnungen. Zugleich schützte der „braune“ Philosoph Prof. Dr. Martin Heidegger auch seine jüdische Studentin Hannah Ahrendt, die ihm trotz seiner faschistischen Haltung zeitlebens in warmherziger Zuneigung zugetan blieb. Spätestens seit 1968 aber hat Marburg gelernt und sich auf den Weg in die Zukunft gemacht. Auf den damaligen „Studentenältesten“ Alexander Gauland folgten bald sozialdemokratische und linke Asten. Auch wenn die „Deutsche Kommunistische Partei“ (DKP) mit ihrer Gefolgschaft für die SED-Diktatur in der DDR während der 70er und 80er Jahre in Marburg außergewöhnlich stark war, hat sich daneben – und teilweise sogar dagegen – in Marburg auch eine undogmatische Linke etabliert. Soziales Bewusstsein und Solidarität sind eng miteinander verknüpft. Was für Behinderte gut ist, das hilft am Ende allen Menschen. Diese Erfahrung kann zum Stadtjubiläum „Marburg800“ nicht oft genug wiederholft werden.
* Franz-Josef Hanke