„Wo sind die Milliarden für Bildung uns Soziale Gerechtigkeit?“ Wie ein roter Faden zog sich diese Frage am Sonntag (1. Mai) durch die Reden zum „Tag der Arbeit“ in Marburg.
Beim Deserteursdenkmal an der Frankfurter Straße eröffnete der DGB-Kreisvorsitzende Pit Metz am Vormittag die Auftaktkundgebung. Dabei kritisierte er das geplante „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Aufrüstung der Bundeswehr. „Auf einmal ist das Geld da, das vorher angeblich fehlte“, erklärte Metz.
Die Lieferung „schwerer Waffen“ an die Ukraine betrachtet der DGB-Kreisvorsitzende skeptlisch. Darin sieht er die Gefahr, dass Europa „schlafwandlerisch in einen Weltkrieg hineinschlittert“, wie es der Historiker Christopher Clarke zur Charaktersierung des Kriegsbeginns 1914 ausgedrückt hatte. Metz warnte zur Besonnenheit und Zurückhaltung trotz aller Solidarität mit dem ukrainischen Volk, das unzweifelhaft Opfer einer russischen Aggression geworden ist, sollte die Deeskalation Vorrang vor Kriegsrhetorik haben, warnte er.
Mit mehreren Reden junger Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter richtete der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) anschließend zum „Tag der Arbeit“ den Blick auf die Zukunft. Sie forderten bessere Bildungschancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, eine größere Durchlässigkeit des Bildungssystems und eine bessere Ausbildungsfförderung ein. Die Ausrichtung der Universität an wirtschaftlichem Erfolg bemängelten die Reden „Wie kann es sein, dass der Fachbereich 03 Sozialwissenschaften und Politik eine Million Euro Schulden hat?“ Diese Frage beantwortete die junge Fragestellerin damit, dass für die Themen dieses Fachbereichs nicht das gleiche kommerzielle Verwertungsinteresse bestehe als bei Naturwissenschaften. Gerade aber sozialwissenschaftliche Fragen seien für die Gesellschaft wichtiger denn je, erklärte die Rednerin.
Bei der Zwischenkundgebung am Hanno-Drechsler-Platz unterhalb der augustinertreppe sprach sich eine Vertreterin der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) für eine bessere Ausstattung von Schulen aus. Das beinhalte die Technik für digitalen Unterricht ebenso wie Lüftungssysteme. Daneben benötige das Personal auch eine stärkere Entlastung angesichts der gravierenden Beanspruchung durch die Folgen der Corona-Pandemie für den Nachholbedarf beim Unterricht, durch die Beschulung geflüchteter Kinder aus der Ukraine und durch die notwendige Inklusion behinderter Kinder.
Waffenlieferungen werden den Krieg in der Ukraine nicht beenden“, erklärte Stefan Sachs. Vielmehr sieht der Bevollmächtigte der Industriegewerkschaft Metall Mittelhessen darin die Gefahr einer weiteren Eskalation des Konflikts, dessen Verursacher eindeutig der russische Präsident Vladimir Putin sei. Solidarität mit den Menschen in der Ukraine solle jedoch in erster Linie durch ihre Aufnahme in Deutschland praktiziert werden, forderte er.
Bei der Abschlusskundgebung auf dem Marktplatz lobte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die große Hilfsbereitschaft der Marburger Bevölkerung gegenüber den Geflüchteten. Das gelte sowohl für die über 1.000 Menschen aus der Ukraine, die bislang bereits in Marburg aufgenommen wurden, als auch für Geflüchtete aus anderen Ländern. „In marburg ist kein Platz für Antisemitismus, Rassismus und Verschwörungsideologien“, erklärte der Oberbürgermeister unter dem Applaus der Anwesenden auf dem vollbesetzten Marktplatz.
„Ich freue mich, nach zwei Jahren Pause wegen Corona hier nun zum 1. Mai wieder so viele aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter zu sehen“, betonte Spies. In die gleiche Kerbe schlug auch der Erste Kreisbeigeordnete Marian Zachow. „Das ist ein gutes Zeichen“, bekräftigte er.
Zachow erinnerte an die – im Januar verstorbene – Landrätin Kirsten Fründt. „Ihr war es ein Herzensanliegen, am 1. Mai immer mit dabeizusein“, berichtete er. „Sie hat sich auch dafür eingesetzt, dass es beim Kreis keine sachgrundlosen befristeten Beschäftigungsverhältnisse mehr gibt.“
Zwei Betriebsrätinnen des Universitätsklinikums berichteten von der bevorstehenden Betriebsratswahl beim Universitätsklinikum Gießen und Marburg (UKGM). In den letzten Jahren hätten die Arbeitsbedingungen dort sich dramatisch verschlechtert. Inzwischen habe das so drastische Formen angenommen, dass ganze Abteilungen deswegen gekündigt hätten.
„Was wäre, wenn eines Tages niemand mehr da ist, um Kranke in einem Notfall zu behandeln“ fragten sie. Die Gesundheitsversorgung dürfe deswegen nicht auf Gewinnmaximierung ausgerichtet werden, sondern müsse sich an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten orientieren. Dabei dürfe sie zwar durchaus kostendeckend arbeiten, aber nicht auf Kosten des Personals.
Auf ihre bevorstehenden Streiks wiesen Beschäftigte aus Kindertageseinrichtungen und der Sozialbetreuug hin. Mit einem Lied verdeutlichten sie, dass „niemand dumm geboren“ sei, sondern man „dumm gemacht“ werde. Bei ihrem Auftritt erhielten sie auch die Unterstützung von vier Mädchen, die den Refrain im Wechsel mit den Erwachsenen vorsangen.
Zum Abschluss hielt der DGB-Landesvorsitzende Michael Rudolph die Mairede. Auch er warnte vor einer drohenden Eskalation der Gewalt im Krieg in der Ukraine. Aufrüstung und Waffenlieferungen betrachtete auch er skeptisch, da sie den Aggressor Putin wohl nicht wirklich aufhalten könnten.
Die Auswirkungen des Kriegs seien schon jetzt in Deutschland angekommen. Nicht nur die geflüchteten Menschen verlangten ein solidarisches Handeln, sondern auch die steigenden Preise. Ein Inflationsausgleich bei der nächsten Lohnrunde sei deswegen unerlässlich, forderte er.
Bei sonnigem Wetter lauschten die gut 500 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mit großer Ausdauer dem überlangen Redeschwall. Dennoch war die Stimmung am Nachmittag besser als am Morgen, wo Metz zum Auftakt meinte, dass er letztes Jahr geglaubt habe, es könne nicht schlimmer kommen, sich dieses Jahr aber eines Übleren habe belehren lassen müssen. Dennoch prägten Aufbruch und positive Utopien die Mehrzahl der Reden zum 1. Mai 2022 in Marburg.
* Franz-Josef Hanke