„Die Ketzerbach ist nicht der Kurfürstendamm.“ Mit dieser Feststellung charakterisierte Prof. Dr. Wolfgang Wippermann am Mittwoch (22. November) die Bedeutung Marburgs für die 68er Bewegung.
Bei der Podiumsdiskussion „1968 in Marburg“ erinnerten sich der Berliner Historiker sowie die Marburger Politologen Prof. Dr. Georg Fülberth und Dr. Wolfgang Hecker im sehr gut gefüllten Auditorium Maximum (AudiMax) an ihre gemeinsame Vergangenheit während der späten 60er Jahre in Marburg. Das Gespräch fand im Rahmen des „Studium Generale“ statt. Im Wintersemester 2017/2018 widmet sich diese Veranstaltungsreihe dem Thema „1968: Aufbrüche –
Ausbrüche – Umbrüche in Marburg, Deutschland und der Welt. Ein Rückblick nach 50 Jahren“.
Zu Beginn zeigte „Harry“ Hecker Fotos und Flugblätter aus seiner Studienzeit. 1966 kam er an die Philipps-Universität. Bei der Begrüßungsfeier für die Erstsemester in der Alten Aula sprach neben Professoren auch der damalige „Studentenälteste“ Alexander Gauland.
Hecker hat sich dann bald dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) angeschlossen. Im Gegensatz zum Berliner oder Frankfurter SDS, die eher antiautoritär geprägt waren, habe die Mehrheit des Marburger SDS eine eher pragmatische und gewerkschaftsorientierte Politik verfolgt. Er selbst habe aber zur antiautoritären Minderheit im Marburger SDS gehört.
Dessen Vorsitzende sei 1968 die spätere Gewerkschafterin Franziska Wiethold gewesen. 28 Prozent der Mitgliedschaft des Verbands waren Frauen; doch seien meist die Männer in der Öffentlichkeit aufgetreten. Mit diesen Aussagen beantwortete Hecker kritische Fragen aus dem Publikum, die das ausschließlich mit Männern besetzte Podium monierten.
Der Friedensforscher Prof. Dr. Thorsten Bonacker vom Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) und der Historiker Prof. Dr. Eckart Conze vom Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften der Philipps-Universität moderierten die Diskussion. Die beiden Hochschullehrer haben das „Studium Generale“ zu „1968“ vorbereitet. Zu der Podiumsveranstaltung hatten sie Wissenschaftler eingeladen, die zugleich auch Zeitzeugen sind.
Fülberth begann seine wissenschaftliche Karriere nach dem Studium in Frankfurt 1967 auf einer Assistentenstelle bei Prof. Dr. Wolfgang Abendroth am Institut für wissenschaftliche Politik der Philipps-Universität. Neben dem Soziologen Prof. Dr. Werner Hofmann war Abendroth die zentrale Figur der 68er-Bewegung in Marburg. Hofmann war 1966 an die Philipps-Universität berufen worden und starb bereits 1969 mit nur 47 Jahren.
Der Ruf Marburgs als „rote Hochburg“ sei aber erst in den 70er Jahren entstanden, erklärte Fülberth. Nicht unwesentlich hatte er selbst mit seinem kommunalpolitischen Engagement in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) dazu beigetragen. Allerdings sei der „Ruf der Marburger Schule verblasst“, während die Frankfurter Schule unter Prof. Dr. Theodor W. Adorno nach wie vor einen legendären Ruf genieße, meinte Wippermann.
Einig war sich Fülberth mit Wippermann in der Einschätzung, dass Marburg im Jahr 1968 selbst keine besondere Bedeutung für die Bewegung gehabt hat. Allerdings habe er als dessen Assistent oft auch kurzfristig Abendroths Vorlesungen übernehmen müssen, weil der Politikprofessor wegen der Aktivitäten gegen die Notstandsgesetze außerhalb zu tun hatte. An der großen „Notstandsdemo“ am 11. Mai 1968 in Bonn haben nach Heckers Aussage etwa 800 Marburger teilgenommen.
Erst danach setzte der große Run auf den SDS ein, der 1966 in Marburg noch weniger als 50 Mitglieder hatte. Um all diese Interessierten in Marxismus und dialektischem Denken zu schulen sowie gleichzeitig einen engen Kontakt zur Arbeiterschaft herzustellen, gründeten Abendroth und Prof. Dr. Frank Deppe in Abstimmung mit der Kreisvorsitzenden Käte Dinnebier vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) an der Uni die „Arbeitsgemeinschaft für gewerkschaftliche Fragen“ (AgF).
„Der spätere Kabarettist Matthias Belz machte Witze, die Wolfgang Gerhardt von der Liberalen Hochschulgruppe nicht verstand“, berichtete Hecker aus den studentischen Gremien der späten 60er Jahre. Gegenspieler der Linken sei damals Friedrich Bohl vom Ring christlich-demokratischer Studenten (RCDS) gewesen.
Nach Berliner Vorbild entstanden nun auch in Marburg „Kommunen“. Inzwischen sind solche Wohngemeinschaften (WG) – wenngleich ohne ihre politische Komponente – etwas Selbstverständliches geworden.
Bereits 1967 gab es einen gemeinsamen Generalstreik der Professoren und Studierenden gegen befürchtete Mittelkürzungen an der Uni. Doch der – damals bereits angekündigte – dramatische Anstieg der Studierendenzahl setzte erst Jahrzehnte später ein.
In die späten 60er und frühen 70er Jahre fällt auch die Entwicklung der Hochschulen von der Ordinarienuniversität hin zur Gruppenuniversität. Die Professoren legten ihre Talare ab und mussten vor den Studenten Rechenschaft über ihre Vergangenheit während des „3. Reichs“ ablegen.
Fast alle kritischen Geister versammelten sich in Abendroths Vorlesungen. Der spätere Marburger Oberbürgermeister Dr. Hanno Drechsler war Fülberths Nachfolger als Assistent des Marburgers Politikprofessors.
Der Frankfurter Philosoph Prof. Dr. Jürgen Habermas hatte Abendrot damals als „Partisanenprofessor im Lande der Mitläufer“ bezeichnet, erklärte Wippermann. Tatsächlich sei er aber ein „Partisanenprofessor in der Stadt der Täter“ gewesen.
Die Philipps-Universität sei damals eher konservativ geprägt gewesen. Wer die Verstrickung von Professoren in die NS-Diktatur öffentlich machte, musste mit ernsthaften Folgen bis hin zum Verweis von der Hochschule rechnen. Insbesondere der Fall des Juristen Prof. Erich Schwinge erregte damals die demokratischen Kräfte, war der Ordinarius doch der einzige Kommentator der Wehrstrafgesetze im Nationalsozialismus und selbst ein mörderischer Richter gewesen.
Eine nicht unwichtige Rolle spielte seinerzeit auch Wippermanns Doktorvater Prof. Dr. Ernst Nolte. Vehement wehrte er sich gegen die Berufung des Faschismusforschers Dr. Reinhard Kühnl auf eine Professur in Marburg.
Wippermann indes leistete Abbitte an den zwischenzeitlich verstorbenen Kühnl. Im Gegensatz zu seinem Lehrer Nolte, der die NS-Diktatur unter Adolf Hitler als Betriebsunfall betrachtet und die Gefahr des Faschismus für beendet erklärt hatte, sei Kühnls Warnung vor einem möglichen neuen Auftreten von Faschismus gerade nach dem Einzug der sogenannten „Alternative für Deutschland“ (AfD) in den Deutschen Bundestag aktueller denn je.
* Franz-Josef Hanke