Fröhliche Zeiten: Im Geschichtenladen zum Stadtjubiläum

Jessica Petraccaro-Goertsches

Jessica Petraccaro-Goertsches (Foto: Michael Lewi Lewerenz)

Das Wetter kann sich kaum entscheiden, ob es schön oder nass werden will. Die Weidenhäuser Straße liegt in vormittäglicher Ruhe vor uns.
Vor ihrer Galerie steht die „Ermöglicherin“ Jessica Petraccaro-Goertsches und ruft uns einen fröhlichen Gruß zu. Wir sind mit der Marburger Galeristin und Künstlerin verabredet. Sie möchte Statemeents von uns auf Video aufzeichnen.
Neugierig betrete ich ihren Laden. Obwohl ich Jessica bereits seit vier Jahren kenne, war ich noch nie in ihrer Galerie.
Die Galerie JPG ist sowohl Atelier als auch Ausstellungs- und Verkaufsraum für andere Künstlerinnen und Künstler. Am Samstag (5. Juni) wird dort eine Ausstellung eröffnet. Die Vernissage soll am Abend stattfinden.
Bereits am Vormittag beschreibt Jessica mir die Kunstwerke sehr anschaulich. Währenddessen bbugsiert sie mich auf einen Stuhl vor einer Stoffbahn, die oben hell ist und nach unten hin ihre Farbe ändert. Dann bringt sie mir eine Tasse Kaffee.
Anschließend erklärt sie uns ihr Vorhaben. Für den „Geschichtenladen“ möchte sie Erzählungen über persönliche Erlebnisse in Marburg auf Video aufzeichnen. Das Ganze ist ein Projekt im Rahmen des Stadtjubiläums Marburg800.
Ich erzähle davon, wie ich 1977 wegen meiner fortschreitenden Erblindung nach Marburg gekommen bin, um an der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) die sogenannte „Blindentechnische Grundausbildung“ in Brailleschrift Lesen und Zehn-Finger-glind-Maschineschreiben zu absolvieren. Dann berichte ich von meinem Engagement im Allgemeinen Studentenausschuss (AStA) ab 1981 als dessen Friedensreferent. Einige Anekdoten über witzige Sponti-Aktionen erregen dabei nicht nur Jessicas Heiterkeit.
„Hurra, Hurra, wir lieben unsre USA“ riefen wir im Sommer 1983 wenige Tage vor dem Besuch des US-Präsidenten Ronald Reagan in Bonn. Durch die Universitätsstraße zogen wir mit unserer angeblichen „Pro-Reagan-Demo“ in Anzug, Schlips und mit Hut zur Jägerkaserne an der Frankfurter Straße. Am Rande des Demonstrationszugs verteilten stadtbekannte Spartakisten derweil die Flugblätter an Passanten, die wir selber gegen unsere eigene Demonstration verfasst hatten.
Ich muss immer noch schmunzeln, wenn ich mich daran erinnere, wie einer von uns vor der Jägerkaserne eine Rede hielt. Ich versuche, seinen Tonfall nachzumachen. Klaus sprach zackig im Militärton.
„Ihr deutschen Soldaten, wir sind stolz auf Euch“, begann er. Nach und nach gingen die Fenster auf. Uniformierte erschienen dahinter und grinsten, bevor hinter ihnen die Vorgesetzten hinzutraten und die Fenster schlossen.
Solche Geschichten erzähle ich gern. Dann komme ich mir vor wie der „Revolutionsopa“, der sich an „die guten alten Zeiten“ im schönen Marburg erinnert. Das hat damals Spaß gemacht und macht heute immer noch Spaß, wenn ich mich dessen entsinne.
Natürlich spreche ich vor der Kamera auch von meiner ehrenamtlichen Arbeit in der Humanistischen Union Marburg (HU). Besonders das Marburger Leuchtfeuer für Soziale Bürgerrechte nimmt dabei einen größeren Raum ein. Allerdings berichte ich auch von der jüngsten HU-Aktion beim Hessischen Landtag in Wiesbaden gemeinsam mit dem Medinetz Marburg.
Als ich fertig bin, reicht mir Jessica noch eine Tasse Kaffee und ein paar Kekse. Gespannt lausche ich der nächsten Rednerin, die von ihren Erlebnissen in Marburg im Jahr 1968 erzählt. Danach spricht ein gebürtiger Marburger über sein persönliches Jimmy-Hendrix-Konzert auf dem Tannenberg.
Von alledem ist nicht nur Jessica sehr angetan. Die Geschichten der bisherigen Rednerinnen und Redner seien überaus vielfältig ebenso wie deren Alter und Geschlecht, erklärt sie. Bis Ende 2022 möchte sie noch weitere Erzählungen aufzeichnen.
Ich empfinde diesen „Geschichtenladen“ als wahren Schatz. Ich bin sehr gespannt, was da alles zu hören sein wird. Ebenso hoffe ich darauf, dass noch viele andere Menschen mit ihren Geschichten aus und über Marburg den Weg in Jessicas Galerie an der Weidenhäuser Straße finden werden.

* Franz-Josef Hanke

2 Kommentare zu “Fröhliche Zeiten: Im Geschichtenladen zum Stadtjubiläum

  1. Pingback: Bewegung und Betätigung: Erinnerungen an den 10. Juni 1982 – marburg.news

  2. Pingback: 10. Juni) Erinnerungen an eine Großdemonstration in Bonn | Franz-Josef Hanke