„Gesundheit ist ein Menschenrecht.“ Bei einer Petitionsübergabe in Wiesbaden stellte das Bündis „Gesundheit für alle in Hessen“ das besonders heraus.
Das Bündnis der medinetze Marburg und Gießen sowie weitere Partner übergab am Dienstag (10. Mai) eine Petition an den Hessischen Landtag. Es fordert, dass gesundheitliche Versorgung für alle Menschen gewährleistet werden soll, auch wenn sie nicht krankenversichert sind. Zu ihren Forderungen gehören auch ein Anonymer Behandlungsschein und die Errichtung mehrerer Clearing-Stellen, die eine Wiedereingliederung in die reguläre Krankenversicherung herbeiführen sollen.
Als Vorsitzender des Petitionsausschusses nahm der Landtagsabgeordnete Oliver Ulloth die Petition entgegen. Er freute sich über die gute Vorbereitung der Petition. Obwohl nur 17% der eingereichten Petitionen vollständig umgesetzt werden, räumte er dem Anliegen gute Chancen ein.
Im Anschluss fand vor der Wiesbadener Marktkirche eine Kundgebung statt, bei der die medinetze und andere Bündnispartner ihre Erfahrungen schilderten und ihre Petition erklärten. Zudem bekamen die Parteien des Landtags Gelegenheit, ihren Standpunkt zu der Sache zu äußern. Durch das Programm führten Oliver Kübeck und Maxi Haslach vom medinetz Marburg. Musikalische Untermalung gab es unter anderem – mit eigens komponierten Liedern – von Jochen Schäfer aus Marburg.
Anna-Maria Gschmack vom medinetz Gießen wies darauf hin, dass etwa 61.000 Menschen in Deutschland nicht krankenversichert sind. Gründe dafür sind zu geringes Einkommen, Ausschlussklauseln in ausländischen Versicherungen beispielsweise bei Schwangerschaften, Wohnsitzlosigkeit, oder ein ungeklärter Aufenthaltsstatus.
„Die Angst vor Stigmatisierung oder die Angst, sich namentlich bei Ärzten zu melden, führt häufig dazu, dass Menschen ohne Krankenversicherung ärztliche Hilfe häufig erst dann aufsuchen, wenn es unvermeidlich geworden ist. Frühzeitige Diagnose und Therapie werden dadurch versäumt. Daraus resultieren Notfälle, stationäre Aufenthalte und chronifizierte Beschwerden, die vermeidbar gewesen wären, und zudem kostenintensiv sind“, erklärte Gschmack. Gesundheit ist ein Menschenrecht, darauf wiesen fast alle Redenden bei der Veranstaltung hin.
Die medinetze agieren ausschließlich ehrenamtlich und sind auf Spenden angewiesen. „Die Verantwortung zur Schließung dieser Versorgungslücke liegt eindeutig auf politischer Ebene“, fügte Gschmack hinzu. „Wir müssen den Politiker*innen nochmals verdeutlichen, dass Menschenrechte nicht selektiv auf einzelne Gruppen anwendbar sind“. Denn um Anspruch auf Menschenrechte zu haben, sagte Gschmack, gäbe es nur eine Voraussetzung: „Mensch zu sein“.
Franz-Josef Hanke der Humanistischen Union Marburg wies darauf hin, dass schon seit der Antike Ärzte den Hypokratischen Eid leisten, der Anspruch auf Versorgung sei so alt wie die Demokratie selbst. Er sieht den Staat in der Pflicht, die gesundheitliche Versorgung zu gewährleisten, die derzeit ehrenamtlich von den medinetzen übernommen wird.
Prof. Dr. Ingo Neupert von der Hochschule Rhein Main brachte die ökonomische Perspektive ins Spiel. Er berichtete, dass die Kliniken, die die Versorgung Nicht-Versicherter übernehmen, keine Vergütung dafür bekommen. Somit müssten Sie mehrere Millionen Euro im Jahr dafür ausgeben.
Matthias Röhrig und Karina Mathais von der Teestube Wiesbaden und Jenny Macher von der dazugehörigen Clearing-Stelle berichteten von Fällen aus ihrem Alltag. Die Teestube Wiesbaden bietet eine humanitäre Sprechstunde an, zu der wohnungslose Menschen zur kostenfreien Gesundheitsversorgung kommen können. Außerdem gibt es Einsätze auf der Straße, bei denen Krankenschwestern wie Mathais die Menschen direkt aufsuchen. „Stellen Sie sich einmal vor, Sie sind wohnungslos, haben keine Krankenversicherung, und Sie haben einen vereiterten Zahn oder haben einen vereiterten Ellenbogen und können nicht zum Arzt gehen“, sagte Mathais. „Ohne Krankenversicherung sind Sie leider in Deutschland immer noch kein gern gesehener Patient in den Notaufnahmen oder in den Praxen“. Obwohl die Erstversorgung in Deutschland in der Regel – oft auf Kosten der Behandelnden – erfolgt, gibt es danach keine Nachsorge und keine Medikation für die Patientinnen und Patienten. Mathais berichtete auch von einer Patientin, die wegen fehlendem Geld für Antibiotika nach einem Infekt auf der Straße verstorben sei. Sie schloss ab mit: „Es darf niemand mehr auf der Straße sterben, und Ehrenamt allein schafft es nicht!“
Lene Wilk von der Clearing-Stelle in Mainz berichtete zudem von nicht gemeldeten oder nicht versicherten Patientinnen und Patienten aus Hessen, die sie in Rheinland-Pfalz eigentlich nicht beraten dürfte, es aber trotzdem tue. Von 300 Patientinnen und Patienten aus Hessen sei die Re-Integrierung in das Versicherungssystem bei 60 bis 70% gelungen.
Die Linken-Landtagsabgeordnete Christiane Böhm sprach sich für Clearing-Stellen in jedem Landkreis aus, nicht nur in den Großstädten. Außerdem kritisierte sie die Landesregierung wegen ihrer Inaktivität. Ein ähnlicher Gesetzesentwurf der Linken sei 2 Jahren zuvor abgelehnt worden. Sie forderte 5 Millionen Euro für die Umsetzung von Clearing-Stellen und Anonymen Behandlungsscheinen und vorausgesetzte Gesundheitsversorgung für alle Flüchtlinge.
Auch Daniela Sommer von der SPD stand der Petition positiv gegenüber und kritisierte die Landesregierung wegen fehlender Menschlichkeit. Sie sagte dazu: „die Regierung prüft so lange, bis es zu spät ist“.
Die FDP mit Yanki Pürsün schloss sich ebenfalls der Kritik an. Außerdem setze er auf die Digitalisierung, um die Sache voranzutreiben, obwohl natürlich wenige Wohnungslose einen Internetzugang haben.
Dr. Ralf-Norbert Bartelt von der CDU beteuerte, dass die Koalition hinter der Petition stünde. Er verstehe die Kritik an die regierung, und begründete die Verlangsamung mit der Pandemie und dem Krieg in der Ukraine. Er wolle das Anliegen der Petition mit einem Fond unterstützen.
Der Grüne Markus Bocklet meinte, dass die Einbeziehung Selbstständiger in der Petition nochmals überdacht werden solle. Er glaube nicht, dass diese Gruppe zu wenig Geld für Versicherungen habe. Bei Wohnungslosen und Flüchtlingen unterstütze er zwar die Petition, sagte aber kurz darauf: „Niemand stirbt weil er keinen Krankenschein hat. Niemand.“ Des Weiteren sprach er sich gegen einen großen Millionenfond aus, „weil das Anreize schafft, dass sich keiner der Selbstständigen mehr selbst versichert.“ Stattdessen schlug er 250.000 Euro für die Unterstützung der Ärztekosten vor. Auch hält er mehrere Clearing-Stellen für nicht zielführend. Seine Aussagen trafen im Publikum auf viel Kritik.
Jörg Klärner von der Caritas Hessen sprach für die Liga der Freien Wohlfahrtspflege. Er erzählte von Obdachlosen, die auf der Straße und in Containern an manchmal kleineren Beschwerden stürben, sowie von Babys, die auf Geburtsstationen zurückgelassen werden, weil sich ihre Mütter keine gesundheitliche Versorgung leisten könnten. Er appellierte an die Landesregierung, die Petition noch vor dem Ende der Legislaturperiode umzusetzen.
Gabriele Türmer von den Maltesern Offenbach wies auf die ersten beiden Artikel des Grundgesetzes hin, wonach eine menschenwürdige Gesundheitsversorgung Aufgabe des Staates ist. Sie schlug vor, Politiker sollten einmal ihre Malteser Praxis besuchen, denn dort fände man oft „die Menschen, die man nicht sieht“.
Schließlich appellierte der Kinder- und Jugendarzt Dr. Christof Stork der Landesärztekammer Hessens an die Landesregierung, ihren Kurs der Ausgrenzung zu verlassen. Schon vor Jahren wurden ähnliche Gesetze in Niedersachsen und Thüringen durchgesetzt. Die Petition jetzt abzulehnen sei zynisch und zeige soziale Kälte. „Zeigen sie Wärme und Mitmenschlichkeit. Erfüllen sie ihre Fürsorgepflicht für die Schwächsten in unserem Bundesland. Schaffen Sie ein Gesetz zu Clearing-Stellen und einem Anonymen Behandlungsschein“.
Die medinetze agieren schon seit Jahren in Gießen und Marburg. Auf die medinetze aufmerksam wurde die JUSOS Landesvorsitzende Sophie Frühwald durch die in Marburg verteilten Sticker. Alle Redenden der Kundgebung dankten den medinetzen für ihr politischen Engagement und ihre ehrenamtliche Arbeit. Das Ziel sei jedoch, ihre Arbeit irgendwann überflüssig zu machen.
*Laura Schiller
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