Mit zwei Veranstaltungen erinnerte die Jüdische Gemeinde Marburg an die Pogromnacht am 9. November 1938. Neben einer Besinnungsstunde hatte die jüdische Gemeinde auch eine Überlebende eingeladen.
Bei klarem und kaltem Herbstwetter fanden sich am Dienstag (9. November) 350 Menschen im „Garten des Gedenkens“ an der Universitätsstraße ein. Das Denkmal war mit Kerzen geschmückt worden und von einigen Scheinwerfern hell erleuchtet. Anwesend waren neben Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies Klaus Dorn als Vertreter der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die Marburger Ehrenbürger Amnon Orbach und Egon Vaupel sowie Hans-Herbert Wilke und Karl-Friedrich Rumpf von der Freiwilligen Feuerwehr Marburg
Zu Beginn sprach Spies ein kurzes Grußwort. Mit sehr bewegenden Worten sowie eingebetteten Zitaten berichtete der stellvertretende Feuerwehrchef Andreas Brauer von der Auseinandersetzung mit der Rolle der Marburger Feuerwehr beim Brand der Synagoge und allgemein während der NS-Zeit. Ergänzt wurde das durch Zeugenaussagen von Feuerwehrleuten aus dem Gerichtsprozess, der nach Kriegsende am Amtsgericht Marburg wegen des Synagogen Brandes verhandelt worden war.
In der Nacht vom 10. auf den 11. November 1938 warfen mehrere Männer gegen 4 Uhr morgens in Zivil, jedoch beim SA-Reservesturms III, einige Brandsätze durch die Fenster des Gotteshauses. Den Feuerwehrmännern im Eiinsatz war es damals von Ihrem diensthabenden Wehrführer verboten worden, in das Brandgeschehen einzugreifen. Die SS-Funktionäre aus Kassel, die den Befehl dazu erteilt haben mussten, sind bis heute namentlich nicht bekannt. Mitglieder der SA Marburg, der ebenfalls Feuerwehrleute angehörten, umstellten daraufhin die brennende Synagoge und verhinderten, dass Dokumente, Schriften oder Devotionalien gerettet und das Gotteshaus von Gemeindemitgliedern oder Anwohnenden gelöscht werden konnte.
Die „Oberhessische Zeitung“ berichtete damals in ihrer Ausgabe vom 11. November 1938, wie vorbildlich es der Feuerwehr gelungen sei, das Übergreifen der Flammen auf die umliegenden Häuser zu verhindern. Der Verlust der Synagoge wurde in dem Artikel mit keinem Wort erwähnt. Die Ermittlungen gegen Unbekannt direkt nach der Tat wurden rasch eingestellt. Mehrere Strafkammern des Marburger Landgerichts befassten sich zwischen 1947 und 1952 ergebnislos mit der Aufklärung der Straftat.
Weiterführende Erkenntnisse dazu bietet die Ausstellung „Als die Feuerwehrautos tannengrün wurden“. Sie ist das Resultat einer umfassenden Auseinandersetzung der Freiwilligen Feuerwehr Marburg mit ihrer Rolle während des Nationalsozialismus. Fachlich begleitet wurde sie von der historischen Fakultät der Liebig Universität in Gießen.
Der hochbetagte Amnon Orbach übernahm die Rolle des Vorsängers, des „Chazans“ der jüdischen Gemeinde. Er intonierte 2 Gebete,worin – jüdischer Musik oft eigen – Schmerz und Schönheit untrennbar miteinander verwoben sind.
Zuerst intonierte er das bedeutendste jüdische Gebet zum Andenken an die Verstorbenen. Es heißt: El male rachamim „Gott voller Barmherzigkeit“. Es gibt davon verschiedene Textversionen, darunter die hier dargebrachte auf hebräisch zum Gedenken der Opfer der Shoah.
Danach folgte das Totengebet „Kaddish“. Die aschkenasische Gottesdienst Liturgie kennt mehr als sechs Varianten davon. Es ist auf aramäisch und heißt: „Gott ist groß und Gott soll uns Frieden, Erlösung, Errettung schicken“.
Diese Art von Erlösung bedeutet endzeitliche Erlösung, sodass es kein Böses, kein Leiden, keinen Tod mehr auf der Welt mehr geben solle. Aschkenasim sind Juden mit Wurzeln in Deutschland und Osteuropa. Beide Gebete wurden auch in deutscher Sprache vorgelesen.
Das Marburger Ensemble „Santiago“ umrahmte die Gedenkfeier sehr stimmungsvoll. Zu einem kleineren Zwischenfall kam es, als ein stadtbekannter linker Texter, Komponist und Straßenmusiker mit einigen Zwischenrufen störte. Daraufhin wurde er des Platzes verwiesen und zuletzt unter lauten Anklagen und vehementen Hilferufen von der Polizei weggebracht.
Die Sperrung der Bushaltestellen um den Garten des Gedenkens von 17.30 bis 19.30 Uhr führte offensichtlich zu einer Menge Verwirrung bei den wartenden Fahrgästen vor dem Kaufhaus Ahrens. Da sie sich weder des Datums noch des Zusammenhangs mit einer jüdischen Gedenkfeier in der Stadtmitte bewusst waren, warteten sie stur und spekulierten über die Gründe, „warum denn keine Busse fahren“. Darüber, dass eine Umleitung vom der Haltestelle Erwin-Piskator-Haus über den Erlenring und die Frankfurter Straße eingerichtet worden war, herrschte scheinbar ebenso große Unkenntnis wie über die Geschehnisse während der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938.
Zwei Jugendliche fragten eine wartende Frau, was „denn da drüben gefeiert“ werde und deuteten auf den beleuchteten Garten des Gedenkens. Die lakonische Erwiderung darauf lautete: „Ach, die feiern weil die da mal was abgebrannt haben.“
Bereits am Montag (8. November) hatte die Kinderärztin und Psychotherapeutin Dr. Eva Umlauf aus München in der Synagoge an der Liebigstraße gesprochen. Sie gilt als eine der jüngsten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz. Sie wurde in einem slowakischen Arbeitslager geboren und als fast Zweijährige mit ihrer schwangeren Mutter nach Auschwitz deportiert.
Ebenso wie ihre Mutter und Schwester hat sie das KZ überlebt. „Die Zeit heilt im Fall Auschwitz keine Wunden“, sagte sie. Wie viele Überlebende hatte sie viele Jahre mit aller Kraft versucht, „ein normales Leben“ zu führen und das Erlebte zu verdrängen.
Erst im Jahr 2014 begann sie während einer Krankheitsphase, ihren tief vergrabenen Erinnerungen nachzuspüren, ihre Vergangenheit zu recherchieren und aufzuarbeiten. Seitdem ist sie als „Zeitenzeugin“ – wie sie sich selber bezeichnet – in Synagogen und Schulen unterwegs. Ihre Erinnerungen hat sie in dem Buch „Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen“ niedergeschrieben.
Sie erzählt ihre Kindheits – und Familiengeschichte unermüdlich und aufrüttelnd. Sie sagt, sie habe es als ihre persönliche Bewältigungsstrategie erkannt, so ihrem Schicksal Sinnhaftigkeit abzuringen, Um weiter so gegen das Vergessen anzukämpfen.
* Anna Katharina Kelzenberg
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