„Papa-, paparazzi“. Kaum hat Lady GaGa ihren letzten Ton gesungen, drücke Ich schnell auf das große Kreuz am Rande meines Handydisplays. Mein Bus passiert gerade die Aral-Tankstelle am Ortseingang von Marburg.
Sorgfältig rolle Ich meine Kopfhörer zusammen und stecke sie in das eigens dafür angeschaffte Säckchen. Der davon abfallende Glitzer schmückt bereits meine Tasche und deren gesamten Inhalt. So bin ich immerhin die Einzige im Umkreis, die von sich behaupten kann, eine glitzernde Busfahrkarte zu besitzen.
Rein theoretisch hätte Ich die Musik noch nicht ausschalten müssen. Genaue Berechnungen und jahrelange Erfahrung sagen mir aber, dass es nicht möglich sein wird, noch ein weiteres Lied bis zum Ende zu hören, und es gibt nichts, was Ich mehr hasse, als ein Lied in der Mitte beenden zu müssen.
Die Option, einfach mit Kopfhörern im Ohr durch Marburg zu laufen, erwäge Ich nicht. Mein Leben ist mir zu wichtig, als dass Ich es in den überfüllten Straßen für Lady GaGa oder die Beatls aufs Spiel setzen würde.
Die restliche Fahrt, die sich durch zahlreiche rote Ampeln enorm in die Länge zieht, verbringe Ich daher damit, den älteren Damen hinter mir zuzuhören. Sie diskutieren gerade lebhaft, ob sie ihren Kuchen in der Oberstadt zu sich nehmen sollten, oder sich den lebensgefährlichen Aufstieg dorthin sparen und sich einen Platz bei Schäfers Backstube suchen sollten.
Diese Frage stellt sich mir nicht. Ich bin mit einer Freundin in der Oberstadt verabredet. Mir bleiben noch zehn Minuten, um zu unserem Treffpunkt zu gelangen.
Die Zeit scheint mir ausreichend. Frohgemut mache Ich den ersten Schritt in Richtung Fußgängerampel. Gerade wird sie grün.
Wie in der 8. Klasse im Sportunterricht gelernt lege Ich einen Schnellstart hin und erreiche die Ampel, als sie gerade von grün auf rot umschaltet. Wenige Sekunden ziehe Ich es in Erwägung, einfach bei rot über die Straße zu rennen. Dann fällt mir eine ähnliche Situation von vor drei Jahren wieder ein.
Ich entscheide mich daher dagegen. Schließlich habe Ich nicht auf ein wertvolles Lied verzichtet, nur um dann von einem aus Verspätung rasenden Stadtbus überfahren zu werden.
Keuchend und schwitzend betätige Ich also den Knopf an der Fußgängerampel. „Signal kommt“, versichert sie mir in leuchtenden und sogar für mich als kurzsichtige Person lesbaren Buchstaben. Beunruhigt sehe Ich auf meine Uhr.
Ich habe noch sieben Minuten. Wie gebannt starre Ich das rote Ampelmännchen an. Die auf der anderen Seite wartenden Fußgänger müssen denken, Ich versuchte, die Ampel durch meine reine Willenskraft zum Umspringen zu bewegen.
Stattdessen versuche Ich aber nur, mich auf etwas zu konzentrieren, um vor Ungeduld nicht wie ein bekiffter Biologie-Student von einem Fuß auf den anderen zu treten. Denn wenn es eines gibt, dass Ich nicht leiden kann, dann ist es, unpünktlich zu sein. Und die Ampeln in Marburg tun alles dafür, meine nicht so stahlhartehn Nerven auf die Probe zu stellen.
Eine gefühlte Ewigkeit später verschwindet das von mir fast hypnotisierte rote Ampelmännchen und macht Platz für seinen grünen Gefährten. Hastig will ich die Straße überqueren, als mir der Weg von einem Auto versperrt wird, dessen Fahrer entweder noch viel kurzsichtiger und ungeduldiger ist als Ich.
Ist die Gefahr gebannt, überqueren Ich und der Rest der Menschenmenge, die sich inzwischen an der Ampel angesammelt hat, die Straße.
Ich will gerade aufatmen, da tritt mir irgendjemand schmerzahft in die Ferse. Genervt sehe Ich mich um. An mir vorbei zieht ein Jura-Student, die Krawatte perfekt gebunden und das neueste I-Phone am Ohr. Lautstark telefonierenden blickt er auf seine überhaupt nicht auffällige goldene Rolex (sponsored by daddy) und hält es nicht für nötig, ein „Entschuldigung“ vor sich herzumurmeln. Das erneute Anziehen meines Schuhs kostet mich weitere 30 Sekunden.
Mir bleiben noch 3 Minuten, um die Treppenstufen zur Obertstadt zu erklimmen und mich durch die Menschenmassen zu dem Café durchzukämpfen, in dem meine Freundin auf mich wartet.
Zahlreiche Tauben aufscheuchend jogge Ich den steilen Berg hoch, vorbei an mich belächelden Gruppen von Jugendlichen, die auf den Treppen vor H&M sitzend ein Eis genießen.
Bereits nach Luft schnappend erreiche Ich die augustinertreppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend will Ich sie so schnell wie möglich hinter mich bringen, doch eine Gruppe von Rentnern entscheidet sich gerade, vor dem Abstieg ein Andenkensfoto zu machen.
Ich bin also gewzungen, auf halben Wege kehrt zu machen und die Seite der Treppe zu wechseln. Die letzten drei Treppenstufen will Ich mir durch einen Sprung ersparen, knicke jedoch bei meiner Landung schmerzhaft um und lande auf den Knien.
Laut fluchend rappele Ich mich auf und ziehe dabei einige wütende Blicke der Rentner auf mich, die ihr Fotoshooting beendet haben und gerade an mir vorbei schlendern. Mit schmerzendem Knöchel und einem blutenden Knie ziehe Ich mich am Treppengeländer die Stufen hinauf.
Oben angekommen bietet sich mir ein Bild der Verwüstung. Bauarbeiter haben die Barfüßerstraße aufgerissen und sind gerade dabei, mit dem Kran ein scheinbar mittelalterliches Rohr aus dem Untergrund ans Tageslicht zu befördern.
Um nicht von diesem Rohr erschlagen zu werden, bin Ich gezwungen, mich der Reihe wartender Leute anzuschließen, deren Ziel ebenfalls eines der Cafés ist, die hinter der Baustelle liegen. Die fleißigen Bauarbeiter legen noch eine Rauchpause ein, bevor sie das Rohr sicher zu Tage befördern und fixieren.
Die Reihe von Menschen setzt sich in Bewegung. Mit Blick auf den Rücken meines Vordermanns werde Ich wie auf dem Jahrmarkt durch den schmalen Durchgang zwischen Hauswand und Bauabsperrung geschoben. Bevor mir erneut jemand den Schuh ausziehen kann, erreichen wir das gelobte Land.
Ich erspähe das zum Glück nicht mehr weit entfernte Café und hetze die letzten Meter auf anderthalb Füßen. Meine Freundin sehe Ich nicht. Als Ich mich stöhnend und verschwitzt an den einzigen freien Tisch direkt neben dem Mülleimer setze, erreicht mich eine WhatsApp-Nachricht: „Ampeln waren alle rot, daher hat mein Bus Verspätung. Bin in zehn Minuten da!“
* Elisa Tittl