Die Premiere des Sommertheaterstücks vom Hessischen Landestheater Marburg (HLTM) unter der Regie von Theaterintendantin Carola Unser-Leichtweiß fand am Donnerstag (12. Mai) auf dem Firmaneiplatz statt. Inszeniert wurde „Jedermann – Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes“ von Hugo von Hofmannsthal.
Als das Drama 1911 uraufgeführt wurde, hatte man sicherlich noch nicht damit gerechnet, dass eine überdimensionale Palme, rosafarbene Perücken und vergoldete Bobbycars genauso Teil der Inszenierung werden wie moderne Pop-Lieder und Tanzeinlagen. Aber das HLTM wäre nicht das HLTM, wenn nicht jede Sommertheateraufführung ein reines Spektakel im positivsten Sinne wäre.
In diesem Jahr wird dieses „allzeiten gehörige und allgemeingültige Märchen“ gezeigt. „Vielleicht ist es das letzte Mal, vielleicht muss es nochmal geschehen“ – sagen die vier Spielansager*innen, die eine Art Erzählinstanz bilden, zu Beginn. Da „Jedermann“ jedes Jahr bei den Salzburger Festspielen aufgeführt wird, ist damit zu rechnen, dass es nochmal auf die Bühne kommt. Aber wahrscheinlich nie wieder so.
Doch die Geschichte, die erzählt wird, ist die gleiche: Gott will Gericht halten über die schlechten Menschen und beauftragt den Tod, den reichen Jedermann zu holen. Gott wird in der Inszenierung von etwa einem Dutzend weiß-gekleideter Schauspieler*innen gespielt, die im Chor sprechen und sich bewegen. Dabei geben sie ein beeindruckendes Bild ab. Im Kontrast dazu steht der Tod – in ein goldenes Gewand gehüllt, mit einer rosafarbenen Perücke und Sonnenbrille, hinter der sich milchige Augen verbergen.
„Wenn keine Liebe da ist, nehm‘ ich ihn mit“, verspricht er und macht sich auf den Weg zu Jedermann. Der kommt gerade mit seiner Yacht wieder zu Hause an, eine riesige Requisite aus Stoff, die bei Erscheinen spontanen Applaus erntet. Ein pinker Teppich wird für ihn ausgerollt.
Jedermann, verkörpert von Sven Brormann, prahlt von den Reichtümern, die er besitzt. Doch als ihn Bettler und Schuldknechte um Almosen und Erbarmen bitten, hat er nichts als Spott und vielleicht einen Schilling für sie übrig. Seine Buhlschaft, gespielt von Ulrike Walther, begrüßt ihn mit Küssen. Mit seinem Gesell (Christian Simon) plant er den Erwerb eines Lustgartens und mit seinen Tischgesell*innen feiert er eine große Party.
Doch dann, von Visionen begleitet, steht der Tod vor der Tür. Jedermanns letzte Stunde hat geschlagen. Wo gerade noch bunte Beleuchtung und Party war, ist jetzt kaltes Flutlicht und Stille.
„Hie hilft kein Weinen und kein Beten, Die Reis‘ musst alsbald antreten“, sagt der Tod. Doch wen Jedermann auch anfleht, keiner möchte ihn auf seine Reise begleiten. Sein Gesell und seine Buhlschaft verlassen ihn, seine Blutsverwandten schauen nur lachend aus einem – an den Platz angrenzenden – Haus zu ihm herunter.
Selbst seinen Reichtum, gespielt von Mia Wiederstein. kann er nicht ins Jenseits mitnehmen. Einzig seine personifizierten Werke (Bibiana Malay) bleiben ihm. Doch sind sie wirklich so gut gewesen, das er darin eine geeignete Reisebegleitung hat?
„Jedermann“ ist eine gewaltige Produktion. Insgesamt waren mehr als 100 Leute an der Inszenierung beteiligt, inklusive aller Ensemble-Mitglieder des HLTM. Dazu zählen noch nicht die Sicherheitskräfte, die Markthändler*innen, die Kassenmitarbeitenden und viele weitere, die die Aufführung inmitten des Marburger Zentrums ermöglichen.
Bei der Inszenierung wird gesungen, getanzt, fabelhaft geschauspielert; doch besonders alles, was darumherum ist, raubt den Atem. Die Kulisse des Firmaneiplatzes mit der angrenzenden Elisabethkirche wird wunderbar ausgenutzt. Alles ist mit bunter Beleuchtung atmosphärisch in Szene gesetzt.
Für die Aufführung wurde extra ein Teil der Deutschhausstraße abgesperrt, auf dem Platz eine Tribüne für das Publikum errichtet und ein kleiner Markt aufgebaut. Die Lage gewährleistet auch, dass man zwischendurch das städtische Leben zu hören bekommt, dass aus der Oberstadt herüberschallt. Das restliche Bühnenbild von Stefani Klie ist gleichzeitig maximalistisch und minimalistisch, denn viel braucht es eigentlich nicht auf diesem Platz. Dafür sind dann die Requisiten überdimensioniert: die meterhohe Yacht, eine pinke Palme, die den Lustgarten repräsentiert und ein langer Tisch, an dem Jedermann Hof hält.
Besonders faszinierend sind die Kostüme von Jörn Fröhlich und Cansu İncesu Peterson. Die reichen Roben von Jedermann, seiner Buhlschaft und seinen Tischgesell*innen, Gottes weiße Gewänder, die pinken Hörner des Teufels, das grüne Antlitz von Mammon, dem Reichtum, oder die pastellfarbenen Kostüme und Perücken der Spielansager*innen geben ein in sich harmonisches Farbbild ab. Sie strahlen wahnsinnigen Aufwand und Liebe zum Detail aus.
Trotz der teilweise ungewohnten Sprache des über 100 Jahre alten Originals ist die Inszenierung leicht verständlich. Die Fassung des HLTM ist modern und doch werktreu: Die Originalsprache wird gemischt mit Einordnungen und Zwischenwürfen, die zum Beispiel die Sprache oder das Geschehen kommentieren. So macht sich das Stück in einer Selbstspiegelung tatsächlich für ‚Jedermann‘ zugänglich.
Die vier Spielansager*innen, gespielt von AdeleEmil Behrenbeck, Anke Hoffmann, Tobias Neumann und Faris Saleh, bieten dabei eine tragende, kontextualisierende Erzählstimme. Besonders beliebte Stars des Abends sind allerdings zwei ‚echte‘ Kinder (Frida Dilling und Ilsa Herzmann), die die Kinder von Jedermann und vom Schuldknecht spielen und auf goldenen Bobbycars hereingezogen werden. Sie meistern dabei nicht nur die schwierige Sprache, sondern kommentieren nebenher noch die moderne Vaterschaft.
Sven Brormann als Jedermann hält dabei das Stück mit seiner Präsenz zusammen. Eine Figur, mit der man sich eigentlich nur schwer identifizieren kann, wird durch ihn nahbar und zum Sympathieträger. Ganz verloren sitzt er nur noch im Hemd auf dem Boden und muss seinem Schicksal entgegentreten. Sein Gesicht spricht von seinem inneren Konflikt und der Ungewissheit, was ihn auf der anderen Seite erwartet.
Georg Santner als der Tod ist in der Inszenierung eine immer präsente Gestalt. Er schreitet langsam und kalkuliert über die Bühne, starrt ins Publikum und beobachtet das Geschehen aus der Ferne. Selbst in der Pause bleibt er anwesend, geht durch die Menge, lässt Fotos von und mit sich machen und verzieht dabei keine Mine. Eine Performance, bei der es einem kalt den Rücken hinunterläuft.
Musik und Tanz tragen insbesondere zum Gelingen der Inszenierung bei. Gut gewählte Lieder unterstreichen die Narrative und kommentieren eher, anstatt überhandzunehmen, sodass es sich an keiner Stelle wie ein Musical anfühlt. Dabei ist ein großes Spektrum abgebildet: Von Madonna über Falco bis Beethoven.
Am Ende bleiben die Fragen, die das Drama aufwirft: Bin ich ein guter Mensch? Was macht eigentlich den Unterschied? Sind meine Werke genug? Was bleibt mir am Ende erhalten? „Und, wer ist jetzt der Jedermann?“
Schade ist es, dass das Stück, wahrscheinlich aus logistischen Gründen, nur dieses Wochenende auf dem Firmaneiplatz zu sehen ist. Es ist tatsächlich für ‚Jedermann‘, denn für alle ist etwas dabei und man lässt sich gerne von der Performance, der Musik und der Atmosphäre mitreißen. Dafür spricht auch der ewig andauernde Premierenapplaus samt Standing Ovation.
Am Schluss dankte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies noch den vielen Mitarbeitenden, die großen Aufwand betrieben haben, um das Stück auf die Bühne zu bringen. So zum Beispiel auch die Stadtwerke, das Ordnungsamt und die Sparkasse als Sponsor. So wurde der „Jedermann“ tatsächlich zu einer Produktion, an der, so scheint es, die ganze Stadtgesellschaft beteiligt war.
*Laura Schiller