Marburgs Behinderte sind beunruhigt. Gleich zwei behindertenfeindliche Entscheidungen erregen die Gemüter.
Früher galt Marburg als „Die Stadt der Blinden“ und als behindertenfreundlich. Das mögen manche Menschen mit einer Behinderung seit einigen Jahren nicht mehr so uneingeschränkt bestätigen. Warntöne an Ampeln wurden allmählich abgeschaltet und Plätze in der Innenstadt wie der Elisabeth-Blochmann-Platz und die Straße „Zwischenhausen“ zu Stolperfallen für Beeinträchtige umgestaltet.
Nun soll die Tourist-Information vom Erwin-Piscator-Haus (EPH) an den Bahnhofsvorplatz umziehen. Die Marburg Stadt und Land Tourismus GmbH (MSLT) ist eine gemeinsame Gesellschaft von Stadt und Landkreis. Sie hat den Umzug bereits vollzogen, ohne dass das neue Domizil barrierefrei wäre.
Zwar werden Marburgerinnen und Marburger selbst nur selten den – bislang noch nicht eingebauten – umständlichen Lift zu dem Gebäude benutzen müssen, doch behinderter Besuch von überallher auf der Welt wird wohl bald die mühselige Tortur über sich ergehen lassen, nur mit fremder Hilfe zu den Informationsschalter für den Tourismus in der einstmals behindertenfreundlichen Stadt zu gelangen. Deswegen hat der Behindertenbeirat bereits einen Brandbrief veröffentlicht, worin er sich über diese flagrante Missachtung der Belange behinderter Menschen beschwert. Verärgert zeigte sich das Gremium, dass es zu den Planungen nicht im Vorfeld befragt worden ist, obwohl Landrat Jens Womelsdorf und Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die gemeinsame Gesellschaft beaufsichtigen.
Noch wesentlich ärgerlicher ist für viele die geplante Einführung eines E-Scooter-Verleihs im Stadtgebiet. Insbesondere Mehrfachbehinderte fühlen sich von dieser Entscheidung auf beängstigende Weise beeinträchtigt. Aber auch alle anderen Menschen in Marburg dürften davon durchaus bedrängt werden.
Aus guten Gründen haben sich die Bürgerinnen und Bürger der französichen Hauptstadt Paris mit 89 Prozent gegen E-Scooter entschieden, die auf Gehwegen herumlagen oder mehrmals auch in der Seine gelandet waren. Nach solch desaströsen Erfahrungen in Marburg dennoch an einem solchen Verleih festzuhalten, zeugt von absoluter Ignoranz der Veranwortlichen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern insbesondere mit möglicherweise gleich mehreren Behinderungen. Derzeit zirkulieren Listen mit Abstellplätzen unter den Behinderten, mit denen die Stadt sie beschwichtigend auffordert, Verstöße gegen die Beschränkung auf die genannten Stellen im Stadtgeiet an die Stadtverwaltung zu melden.
Nun sollen Behinderte also als städtische Hilfspolizei darauf achten, dass die Leihroller nicht achtlos weggeworfen werden und sich so zu Handlangern der Verleihfirma machen! Warhscheinlich werden Blinde solche Meldungen meist dann abgeben, wenn sie bereits über die herumliegenden E-Roller gestolpert und vielleicht gar gestürzt sind. Ist das nun das neue „behindertenfreundliche Marburg“?
Die Behauptung, ein E-Scooter-Verleih sei klimafreundlich, ist eine geradezu dreiste Verdrehung der Tatsachen: Für die Herstellung der Gefährte wird ebenso Energie benötigt wie für ihren Betrieb. Dieser Ladestrom fehlt dann für andere notwendige technische Geräte oder ehröht die Strompreise.
Für das Verleihsystem wird außerdem Boden versiegelt. Diese Flächen fehlen für die nötige Begrünung mit Bäumen oder Blumen und Rasen. Wo die Scooter und Roller rasen, ist auch kein Platz für Fußgängerinnen und Fußgänger.
Offenbar gibt die Stadt beim E-Scooter-Verleih den Druck des Betreibers Tier an die behinderten Bürgerinnen und Bürger weiter. Im November 2021 hatte der E-Scooter-Verleih Tier Mobility den Fahrradverleih Nextbike übernommen. Das Bikesharing-Projekt bietet seit 2017 in Marburg die blau-weißen „Stadträder“ in einer Kooperation von Stadt, Stadtwerken und AStA Marburg an 30 Standorten im Stadtgebiet an.
Während jedoch die Stadträder mit Muskelkraft fortbewegt werden, sind die elektrschen Roller von Tier gerade für hör-sehbehinderte Menschen eine weitaus größere Gefahr, da sie nahezu lautlos oft auf Gehwegen eng an den Fußgängerinnen und Fußgängern vorbeisausen. Wahrscheinlich will Tier aber auch in Marburg nicht nur mit Fahrrädern Geld verdienen, sondern auch mit vermieteten E-Scootern. Nur so können sich Betroffene die Vehemenz erklären, mit der die Stadt ihre berechtigten Bedürfnisse in den Wind schlägt.
Doch die Stadt und vor allem die Verantwortlichen in Verwaltung und Politik müssen sich entscheiden, ob sie die Stadt an ökologisch fragewürdige Projekte verkaufen und die behinderten Bürgerinnen und Bürger dabei übergehen oder ob sie weiterhin an einer menschenfreundlichen Stadt für alle arbeiten möchten. Wer Behinderte dem Tier opfert, wird wahrscheinlich schon bald selbst über diese E-Scooter stürzen.
* Franz-Josef Hanke