Eine Impfpflicht für alle ist nötig. Das ist das Ergebnis differenzierter Abwägungen.
Unzweifelhaft ist eine gesetzliche Impfpflicht ein sehr starker Eingriff in die Grundrechte der Betroffenen. Ihr Recht auf „Körperliche Unversehrtheit“ wird damit massiv angegriffen. Deshalb ist sie nur die allerletzte Möglichkeit zur Bewältigung der Pandemie.
Dennoch ist eine solche Impfpflicht verfassungsrechtlich geboten. Nur sie kann gefährdete Menschen vor den schlimmen Auswirkungen des Coronavirus wirklich schützen. Das gilt insbesondere für den Herbst 2022, wenn möglicherweise eine weitere Welle mit einer neuen Corona-Mutante über die Welt hinwegrollt.
Alle diejenigen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können oder bei denen der Impfstoff wegen einer Autoimmunerkrankung nicht wirkt, bedürfen des Schutzes durch die impfung der anderen. Das gilt auch für Kinder unter fünf Jahren, für die derzeit noch kein Impfstoff zugelassen ist. Auch das Pflegepersonal sowie Beschäftigte in Arztpraxen oder der sogenannten „sensiblen Infrastruktur“ haben ein Recht auf Schutz durch eine Impfpflicht für alle.
Impfen ist für die allermeisten Menschen durchaus kein unzumutbarer Eingriff, da es ihre eigene Gesundheitsvorsorge stärkt und sie selber vor dem Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs schützt. Insofern ist es sogar eher eine Stärkung der Körperlichen Unversehrtheit der Betroffenen. Zusätzlich ist eine hohe Impfquote in der Gesamtbevölkerung auch der beste Schutz vor einer weiteren Welle der Corona-Pandemie.
Mit einer Impfpflicht würden also auch Geschäfte und Betriebe vor finanziellen Einbußen geschützt. Eine Impfpflicht würde den Staat vor weiterer Verschuldung bewahren und das Gesundheitssystem vor einer weiterhin andauernden Belastung. All diejenigen, die ihre Krankheiten wegen der Überlastung von Kliniken und Intensivstationen nicht behandeln lassen können oder wollen, haben auch einen Anspruch auf Schutz durch eine allgemeine Impfpflicht.
Darum ist eine Impfpflicht ausschließlich für Menschen über 50 Jahre auch nicht zielführend. Der allergrößte Teil derjenigen, die sich derzeit im Landkreis Marburg-Biedenkopf mit dem Coronavirus infizieren, sind zwischen 20 und 29 Jahre alt. Das zeigen seit einigen Monaten bereits die wöchentlichen Mitteilungen des Gesundheitsamts zur Altersstruktur der positiv getesteten Personen im Landkreis.
Zudem wäre eine Impfpflicht für Leute über 50 auch eine offene Altersdiskriminierung. Im Umkehrschluss läge dann auch der Verdacht nahe, dass diese Personen bei einer „Triage“ möglicherweise sonst nicht behandelt würden. Dergleichen hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in seiner Entscheidung vom 28. Dezember 2021 aber ausdrücklich verboten.
Eine Impfpflicht ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn sie auch durchgesetzt wird. Das könnte durch Stichproben und die anschließende Aufforderung geschehen, sich innerhalb einer angemessenen Frist impfen zu lassen. Danach könnte der Druck durch Androhung von Bußgeldern verstärkt werden.
Auch eine wiederholte und mit gesteigerten Beträgen versehene Bußgeldandrohung wäre wohl denkbar. Eine zwangsweise Vorführung zur Impfung hingegen ist nicht verhältnismäßig und wohl auch nicht rechtmäßig. Ebenso bedarf es wahrscheinlich auch keines nationalen Impfregisters, das möglicherweise Probleme beim Datenschutz verursachen könnte.
All diejenigen, die immer noch beteuern, man solle es doch erst einmal mit Überzeugungsarbeit versuchen, verschließen die Augen vor der Realität. Wer nach all den Monaten von Lockdown und Leid immer noch nicht geimpft ist, ist ohne Druck nicht mehr von einer Impfung zu überzeugen. Wer Übersterblichkeit und überfordertes Personal in Intensivstation ebenso in Kauf nimmt wie die psychischen Probleme vieler Menschen, die Furcht von Eltern und Kindern sowie den drohenden Abbau von Arbeitsplätzen, dem ist im Guten nicht mehr zuzureden.
Letztlich ist darum vor allem die seelische Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger der Hauptgrund für eine allgemeine Impfpflicht für alle Erwachsenen, denn durch diese gesetzliche Regelung sähen sie endlich das erhoffte „Licht am Ende des Tunnels“. Wer seine Freiheit höher bewertet als die aller anderen Menschen ringsum, der hat keinen Respekt vor der Gesellschaft und den Werten der Demokratie. Insofern würde eine Impfpflicht auch nicht „die Gesellschaft spalten“, sondern nur diejenigen in Bedrängnis bringen, die sich ohnehin schon außerhalb der Gemeinschaft befinden.
* Franz-Josef Hanke