Die Erwartungen weit übertroffen hat die Resonanz auf die Auftaktveranstaltung zur Bürgerbeteiligung am Samstag (29. April). Rund 200 Menschen waren der Einladung der Stadt ins Erwin-Piscator-Haus (EPH) gefolgt.
In World-Café- und Fokusgruppen führten sie engagierte Gespräche, sammelten Ideen und Vorschläge, tauschten Erfahrungen aus und erhielten zugleich in kurzweiligen Interviews Informationen zu bestehenden Marburger Beteiligungsformaten. Mit einer so beeindruckenden Beteiligung habe man auch bei optimistischen Schätzungen nicht gerechnet, freute und bedankte sich gleich zum Start Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies.
„Das ist schon etwas Sensationelles“, zeigte sich auch Moderator Ludwig Weitz von der Zahl der Teilnehmenden in Marburg im Vergleich zu anderen Städten beeindruckt. Während draußen die Sonne schien, herrschte auch im hellen Foyer der Kultur- und Tagungsstätte am rund vierstündigen Veranstaltungsvormittag eine aufgeschlossene und durchweg sachorientierte Atmosphäre. Dazu trug mit gelungenen wie humorvollen Improvisationen auf Zuruf auch das Fast Forward Theatre Marburg bei.
„Demokratie ist die Übertragung von Macht an wenige auf Zeit“, definierte Spies die Grundlagen seiner eigenen Macht. „Bürgerbeteiligung stellt sicher oder soll sicherstellen, dass in den Zeiten zwischen den Hochämtern der Demokratie das Verständnis, die Vernünftigkeit, die Richtigkeit, die Angemessenheit des Handelns der öffentlichen Hand und die Beachtung aller legitimen Interessen verbessert wird.“
Dafür gelte es, sich auf Regeln, Qualitätsstandards, eventuell neue Formate und auf die Weiterentwicklung guter Erfahrungen zu verständigen. „Mehr Bürgerbeteiligung soll dazu beitragen, dass möglichst alle Bürgerinnen und Bürger zuerst besser informiert sind oder werden“, erklärte das Stadtoberhaupt. „Dann soll Mitwirkung erleichtert werden.“
Am Ende würden die sehr pragmatischen politischen Entscheidungen für Marburg vernünftiger und sachgerechter, hofft Spies. Zudem integrierten sie dann noch besser möglichst viele Interessen.
Marburg habe viele Formen der Beteiligung. Deshalb gehe es um eine Vervollständigung, nicht um das Ersetzen von Bestehendem. Bürgerbeteiligung sei gerade vor dem Hintergrund einer schwindenden Wahlbeteiligung und –
schlimmer – einer wachsenden Bereitschaft, die extremistischen Randbereiche des Spektrums, die expliziten Politikverweigerer zu wählen, von großer Bedeutung.
„Bürgerbeteiligung kann und soll dann ein erweitertes Sensorium für die Kommunalpolitik sein, eine Brücke zwischen Verwaltung, Parlament und Einzelinteressen herstellen“, erklärte der Oberbürgermeister. „Es gilt, die zu hören, die sich noch nicht so laut melden.
Interessant seien für diesen Prozess vor allem die „Beteiligungsfernen“. Das seien häufig wahlabstinente, sozial benachteiligte Menschen und Menschen mit eher geringeren formalen Bildungsabschlüssen.
„Das sind aber auch junge Familien und alleinerziehende Frauen, die einfach keine Zeit haben, oder Menschen mit Migrationshintergrund“, erläuterte der Oberbürgermeister. „Was wir aber brauchen, ist noch mehr Beteiligung in Marburg aus unterschiedlichen Perspektiven. Junge und Jugendliche, Familien, Frauen, Studierende, Menschen mit Einwanderungsgeschichte, Menschen, denen lange Sitzungen nicht so liegen, Menschen, die sich im Stich gelassen fühlen, Menschen, die sozial benachteiligt sind – alle Beteiligungsferneren – gehören dazu.“ Bürgerbeteiligung bedeute, alle Menschen ernst zu nehmen.
In zwei World-Café-Runden und bei angeregten Gesprächen trugen die Anwesenden in wechselnder Besetzung im Anschluss an Gruppentischen ihre ersten Vorschläge zur Frage „Was brauchen wir für eine gute Beteiligung in Marburg?“ zusammen. Schon nach kurzer Zeit füllten sich dabei die Papiertischdecken kreativ mit jeder Menge bunter Stichworte, die Moderator Weitz beispielhaft für das Plenum erfragte.
Erste Wünsche reichten von einfacher Sprache über die Würdigung von alltäglichem Engagement, der Berücksichtigung aller Altersgruppen, verbindlichen Zeitplänen bis zu einer Servicestelle für Beteiligung, einer Anfragebox oder einem Beteiligungskataster, das als Plattform transparent über bestehende Möglichkeiten informiert. Alle erarbeiteten Vorschläge werden nach der Auftaktveranstaltung nun von der Stadt dokumentiert und für den weiteren Prozess zur Verfügung gestellt.
Dass sich zu der Auftaktveranstaltung eine bunte Mischung von Teilnehmenden eingefunden hatte, fragte Moderator Weitz im Rahmen einer „Lebendigen Statistik“ ab: Jung und Alt, Menschen verschiedener Staatsangehörigkeiten, aus der Kernstadt sowie aus den Stadtteilen, Menschen, die sich bereits in Initiativen oder Vereinen engagieren und Einwohner, die sich durch einen Brief des Oberbürgermeisters per Zufallsauswahl neu angesprochen fühlten, sowie Menschen aus Politik und Verwaltung kamen zusammen.
„Jeder Besucher ist von Marburg begeistert“, erläuterte Hadar Al-Saffar im Kurzinterview stellvertretend für alle, die sich zum ersten Mal beteiligen. „Wenn man hier lebt, merkt man, dass es immer wieder Verbesserungsmöglichkeiten gibt. Und ich denke, es ist wichtig, daran mitzuarbeiten, dass unsere Stadt noch besser wird, als sie sowieso schon ist.“
In fünf Fokusgruppen zu den Themen „Beteiligung und Stadtplanung“, „Digitale Beteiligung“, „Beteiligung auf Stadtteil- und Ortsebene“, „Inklusion und Vielfalt in der Beteiligung“ sowie „Open Space“ nutzten die Marburger nach einer kurzen Pause mit Snacks und der Möglichkeit zum gemeinsamen Singen auch den zweiten Teil der Veranstaltung, um konzentriert und vielfältig Ideen zu sammeln. So brachten sie als erste Anregungen für einen mit der Veranstaltung am Samstag begonnenen Prozess unter anderem einen stetigen Austausch zwischen niedrigschwelliger, informeller Beteiligung und der Politik, eine digitale Plattform als Ergänzung zum Beteiligungsprozess, die persönliche Begegnung und Wertschätzung, die Unterstützung von Migrantenvereinen, Begegnung auf Augenhöhe, eine App zur Kommunikation und Information, die Zusammenarbeit mit anderen Kommunen oder die frühzeitige Veröffentlichung von Vorhabenlisten für die weitere Diskussion ins Spiel.
All das fließe als Impuls jetzt in das weitere Verfahren ein, versprach Dr. Griet Newiger-Addy. Die Leiterin der Marburger Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung informierte die Anwesenden zum Thema: „Wie geht es weiter? Wie kann ich mich einbringen?“
Per Mitmach-Zettel hat die Stadt die Aktiven vom Samstag gefragt, in welchen Arbeitsgruppen sie dafür künftig mitarbeiten möchten. Bis Mitte 2018 soll ein Konzept mit Leitlinien und Verfahren für die Bürgerbeteiligung entstehen und der Stadtverordnetenversammlung (StVV) zur Entscheidung vorliegen.
Eine Koordinierungsgruppe aus Einwohnern, Stadtverordneten, Verwaltung und Magistrat sowie Wissenschaft soll dabei zusammenführen und den Prozess begleiten, kündigte Newiger-Addy weiter an. Zugleich erfolgt mit der Demokratieforschung an der Philipps-Universität eine wissenschaftliche Begleitung des Prozesses und eine Bestandsaufnahme der bereits über 50 bestehenden Marburger Bürgerbeteiligungsformate.
„Alles, was wir bewerten und erheben, wird öffentlich zur Verfügung gestellt und in den Prozess zurückgegeben“, versprach Prof. Dr. Ursula Birsl, die mit ihren 13-köpfigen Team von Studierenden zur Veranstaltung gekommen war. „Wir werden außerdem darauf achten, ob die Instrumente der Beteiligung dazu geeignet sind, unabhängig von der sozialen Herkunft und Staatsangehörigkeit Demokratie wieder zu stärken.“ Sie sei überzeugt, dass die kommunale Ebene durchaus der Ort sei, Demokratie wieder stärker zu leben.
Ziel sei parallel zur Erarbeitung der Leitlinien auch, bereits neue innovative Verfahren auszuprobieren und den Prozess durch eine repräsentative Befragung zu ergänzen, skizzierte Newiger-Addy das weitere Vorgehen. „Wir werden über all das und die einzelnen Schritte kontinuierlich und transparent informieren“, machte sie deutlich.
Dass es neben neuen Vorschlägen in Marburg bereits viele gute Anknüpfungspunkte für Bürgerbeteiligung gibt, hatten am Vormittag Kurzinterviews zu verschiedenen Formaten der Universitätsstadt eindrucksvoll vor Augen geführt. So berichteten Elias Hescher und Smilla Westenberger vom Rede- und Antragsrecht des Kinder- und Jugendparlaments in der Stadtverordnetenversammlung, Jochen Wölk vom Seniorenbeirat und als Leiterin der städtischen Altenplanung Dr. Petra Engel von Nachbarschaftsprojekten, die aus der Quartiersentwicklung hervorgegangen sind.
Für die Gemeinwesenprojekte AKSB und IKJG erklärten Britta Stadlmann-Golega und Dorothee Griehl-Elhozayel, wie wichtig es sei, , Menschen, die sonst schwer zu erreichen sind, auf dem Weg zur Beteiligung ernst zu nehmen, ihre Stimme zu hören, direkte Beziehungen vor Ort aufzubauen und Strukturen zu bieten, in denen sie auf Vertrauensbasis dann wachsen können, um vielleicht zu Sprechern ihres Stadtteils zu werden. Auch beim Ikek-Prozess zur Dorfentwicklung in den Außenstadtteilen habe die aufsuchende Beteiligung im Mittelpunkt gestanden, erläuterte im Interview für die Stadtplanung Reinhold Kulle. Die Vorschläge kamen aus der Bewohnerschaft, die Verwaltung bot Tagungen an, um Know-how zu Verfügung zu stellen.
Es gehe um die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements, um das Ausloten von Interessen und Konflikten und die Frage, welches Verfahren für welche Situation geeignet sei, hatte Stadtverordnetenvorsteherin Marianne Wölk schon eingangs betont. „Sie haben einen Samstag hergegeben, um sich zu beteiligen“, bedankte sich der Oberbürgermeister zum Abschluss der Veranstaltung, die erst ein Auftakt war.
„Ich freue mich sehr auf den weiteren Prozess“, sagte Spies. „Denn die Bürgerinnen- und Bürgerbeteiligung geht nicht ohne Bürgerinnen und Bürger, die sich beteiligen. Ihre Mitsprache trägt zur Zufriedenheit und zur weiteren Qualitätsverbesserung in unserer Stadt Marburg bei.“
* pm: Stadt Marburg
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