„Ich wollte nicht auf der Couch sitzen und nichts tun.“ So begründete Ruby Hartbrich ihr Engagement in der Seenotrettung für Geflüchtete im Mittelmeer.
Mit einem 15-minütigen Film berichtete die Marburger Ärztin am Sonntag (12. Mai) im Erwin-Piscator-Haus (EPH) den knapp 60 Anwesenden von ihrem ehrenamtlichen Einsatz auf dem Rettungsschiff „Sea-Watch 3“. Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies moderierte das „Marburger Stadtgespräch“ zum Thema „Seenotrettung und Flucht“. Neben Hartbrich sprachen dort auch Rostam Nazari aus Afghanistan und Goarik Gareyan-Petrosyan.
Im Anschluss an das Video eröffnete Spies die Gesprächsrunde. Eindringlich berichtete Hartbrich von ihren Erfahrungen der Seenotrettung, vom alltäglichen Sterben, der Not von Menschen in Todesangst und von der Verpflichtung zur Hilfe für Menschen in Not.
Der Film zeigte verzweifelte Menschen auf wacheligen Schlauchbooten im Mittelmeer. Spies bezeichnete sie als „bessere Plastiktüten“.
Wer im Mittelmeer Flüchtlinge von solchen Schlauchbooten rettet, muss mit ernsten Schwierigkeiten retten. Statt die Retter zu würdigen, werden sie behindert, bedrängt und verfolgt. Statt der Seenotrettung finanziert die Europäische Union (EU) aber die sogenannte „Lybische Küstenwache“, die Flüchtende in lybische Lager zurückbringt.
In dem Film berichteten Geflüchtete von Folter und Misshandlungen in diesen Lagern. Ein Frau erklärte, sie sei dort als Sklavin verkauft worden und später geflohen.
Auch Nazari ist auf einem solchen Schlauchboot von der Türkei aus zur griechischen Insel Lesbos gelangt. Auf seiner siebenjährigen Flucht verlor der Jugendliche mehrere Angehörige. Im Alter von acht Jahren hatte er mit seiner Familie das umkämpfte Afghanistan verlassen.
Unter dem Titel „Rostams Reise – Von Afghanistan nach Deutschland“ hat Nazari ein Buch über seine Fluchterfahrung geschrieben. Darin berichtet der heute 19-jährige junge Marburger über sein Geburtsland, die Flucht in den Iran und den gefahrvollen Weg nach Deutschland sowie sein Leben auf der Suche nach Bildung, Frieden und Freiheit.
„In Deutschland habe ich schreiben und lesen gelernt“, erläuterte er seine Beweggründe für diese Veröffentlichung. „Ich wololte diese neuen Kenntnisse nutzen, um micch dafür zu bedanken und den Menschen hier Informationen über die Situation eines Geflüchteten zu vermitteln.“
Gareyan-Petrosyan sprach über die Rolle des Ausländerbeirats als Vermittler und Fürsprecher für Menschen aus anderen Ländern. Sie lobte das Engagement der Stadt Marburg für Seenotrettung und betonte, dass die Schwierigkeiten nach der Flucht nicht aufhören, sondern Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Integration dauere Jahre und bedürfe beiderseitiger Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen.
Außerdem wies die Vorsitzende des städtischen Ausländerbeitrats auf das berechtigte Misstrauen vieler Geflüchteter gegenüber Behörden hin. Darum sei das Verfahren, mit dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) den Status von Asylbewerbern anhand eines einzigen Interviews festlegt, überaus zweifelhaft. Menschlichkeit verlange mehr Mitgefühl anstelle dieser bürokratischen Vorgehensweise, meinte sie.
Hartbrich forderte, kein Geld mehr an die sogenannte „Lybische Küstenwache“ zu zahlen, die damit Menschen unterdrücke und foltere. Stattdessen solle das Geld für die Seenotrettung eingesetzt werden. Eigentlich sei das ja Aufgabe der Staaten und nicht privater Organisationen wie „Sea-Watch“, erklärte sie.
Ihre Organisation sei erst in die Seenotrettung eingestiegen, als bereits viele Menschen im Mittelmeer ertrunken waren. Damit widerlegte die junge Ärztin auch den Vorwurf, die private Seenotrettung rufe die Schleuser erst auf den Plan.
Oberbürgermeister Spies forderte alle Anwesenden auf, bei der Europawahl am Sonntag (26. Mai) teilzunehmen und die EU als ein eigenes Projekt wertzuschätzen. Andere Anwesende betonten, sie würden nur für Parteien und Kandidaten stimmen, die der derzeitigen Behinderung der Seenotrettung im Mittelmeer ein Ende setzen wollen. Die vielzitierten „Europäischen Werte“ von Demokratie und Humanität verböten das rassistische Vorgehen der italienischen oder maltesischen Regierung gegenüber der Rettung Schiffbrüchiger.
* Franz-Josef Hanke
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