Zwischen Wehmut und Nostalgie: MarburgMomente, MarburgAbschied & Co

Letzten Freitag bin ich durch die Oberstadt gelaufen und hatte plötzlich das Gefühl, jede Sekunde in Tränen auszubrechen. Nicht etwa wegen der vielen Treppen und Stufen oder aufgrund des hohen Stolperpotentials des tückischen Kopfsteinpflasters. Der Grund war ein anderer: Mit einem Mal traf mich die Erkenntnis, dass sich mein Kapitel in dieser Stadt unaufhaltsam dem Ende zuneigt. 

Erst kürzlich habe ich gelesen, dass die Beziehung zu einer Stadt drei Phasen durchläuft: Phase eins ist das Ankommen, Phase zwei der Alltag und Phase drei der Abschiedsschmerz. Marburg und ich, wir befinden uns gerade definitiv in Phase drei.

Da liegt dieses Gefühl von Endzeitstimmung in der Luft, vermischt mit Wehmut, Dankbarkeit und auch einer kleinen Prise Stolz. Ich merke, wie sich Nostalgie und Verlustangst in mir breitmachen, während mein Herz gleichzeitig so voll und warm ist. Ein Wirrwarr aus Emotionen. Und die eine oder andere Träne, die sich heimlich über meine Wange stiehlt.

Wurde die Häuserfassade in der Barfüßerstraße schon immer so schön von der Abendsonne angeleuchtet? Und war es schon immer so malerisch an der Lahn entlang durch das Grün zu spazieren? 

Man sagt, in Städte verliebt man sich genau andersherum als in Menschen – die rosarote Brille schleicht sich zum Ende hin ein. Je näher mein Abschied rückt, desto rosaroter wird meine Brille, als ob für immer Frühling wäre.

Einerseits war ich in Abschieden noch nie besonders gut. Sie brechen mir immer wieder aufs Neue ein kleines bisschen das Herz, oder vielleicht auch ein Großes. Andererseits bin ich diesem Moment des Gehens auch dankbar. Er zwingt mich, innzuhalten und bewusst darüber nachzudenken, was diese Zeit für mich bedeutet hat.

Was ich an Marburg schätzen gelernt habe? Marburg hat etwas Verwunschenes. Seine verträumte Aura gleicht einer märchenhaften Idylle. Ich mag, wie fußläufig Marburg ist. Und ich mag, dass ich meine täglichen Wege inzwischen so in- und auswendig kenne, dass ich Straßenlaternen und Pfosten ganz automatisch im Unterbewusstsein umgehe. 

Auch wenn es mir wohl immer eine Spur zu klein bleiben wird, Marburg ist gelassen und gemütlich. Es hat absolutes Wohlfühlpotential. Ich schätze seine kleinstädtische Überschaubarkeit und die entschleunigende Ruhe. Ich mag, dass Marburg so grün ist. Und dann sind da noch die Gebäude der Alten Universität, die mich immer wieder fühlen lassen, als wäre ich soeben in Hogwarts gelandet.

Manchmal kommt mir die Stadt wie eine riesige Jugendherberge vor. Man könnte meinen, sie sei regelrecht belagert von jungen Leuten. Eine Freundin meinte neulich, Marburg würde sich alle vier Jahre häuten. Mit jedem Semester strömen neue Studierende herbei, andere ziehen weiter. Es erfindet sich immer wieder neu und bleibt dabei doch immer gleich. 

Was ich an Marburg vermissen werde, sind die Ampelmännchen. Bei Rot pocht ihnen vor Aufregung das Herz in der Brust. Und sobald die Ampel auf Grün springt, sich die Beiden an den Händen nehmen und ein kleines Herz zwischen ihnen aufleuchtet, beginnen auch in meinem Bauch die Schmetterlinge zu tanzen. 

Friedliche Stunden am Friedrichsplatz werden mir fehlen, oder nostalgische Nachmittage bei Frau Friedrich gleich nebenan. Einmal hat ein Marienkäfer dort mein Tagebuch gelesen. Als er schließlich zu seinen Marienkäferfreunden davongeflogen ist, um auf der Stelle meine Geheimnisse auszuplaudern, habe ich mich ein wenig betrogen gefühlt. 

Vermissen werde ich die besonderen Ausblicke, die man in Marburg erhaschen kann, von besonderen Augenblicken ganz zu schweigen. Wie oft ich das Farbspiel wohl schon fotografiert habe, wenn sich der Himmel orange und rot und lila färbt und sich die Häuserkulisse auf der Lahn spiegelt, und die Sonnenuntergangsfarben auch?

Ich werde den Moment vermissen, wenn ich im Zug sitze und das Schloss aus der Ferne aufblitzt. Das Schloss ist einfach immer da. Wenn ich aus meinem Zimmer blicke, kann ich es durch die Äste vor meinem Fenster erspähen. Abends erhebt es sich angestrahlt in warmem Licht über der Stadt, tagsüber thront es hoch oben auf dem Berg über den Dächern.

Meiner Fitness hat Marburg definitiv gutgetan. Nicht nur, weil meine Wohnung im obersten Stock liegt, sondern auch dank der unzähligen Treppen und steilen Wege die Oberstadt hinauf. Und wann werde ich wohl noch einmal in einer Stadt mit einem Oberstadtaufzug leben? Vermutlich nie. 

Was ich ganz besonders missen werde, ist die idyllische Atmosphäre der Oberstadt. Nach drei Jahren bin ich nach wie vor gefesselt von ihrem Fachwerkhäusercharme. Nicht nur die über Jahrzehnte nahezu unversehrt gebliebene mittelalterliche Architektur beeindruckt mich immer wieder; auch die unglaublich schmalen und besorgniserregend schrägen Häuschen lassen mich stutzen. Bei genauerer Betrachtung ist das auch kein Wunder. So viele Winde und Wetter und Studierende, die ihre Poster an die Wände hämmern, diese kleinen Häuser schon mitgemacht haben – da wäre ich auch ganz schief und krumm geworden.

Vermissen werde ich das Labyrinth aus Gassen, so verwinkelt und eng, dass man nur allein durch sie hindurchpasst. Und nach diesem besonderen Flair werde ich mich sehnen – einem Hauch vergangener Zeiten, der zurück in andere Jahrzehnte katapultiert. 

Auch die kleinen Dinge werden mir fehlen: das Schokoladeneis bei der Heißzeit oder das Sonnenbaden an den Lahntreppen. Wie sehr habe ich es genossen, mich im Alten Botanischen Garten auf eine Bank zu setzen und das Geschehen um mich herum zu beobachten. Vorbeitapsende Teichhühner im Speziellen und das unterhaltsame Treiben der Besucherinnen und Besucher im Generellen. 

Immer wenn ich Besuch bekomme und meine Besucherinnen und Besucher hin und weg und über beide Ohren entzückt sind von dieser kleinen schönen Stadt, bin ich ein bisschen stolz, dieses gelungene Fleckchen Erde entdeckt und belebt zu haben.

Was ich an Marburg definitiv nicht vermissen werde? Eindeutig den rostigen Nagel im Delirium – und die Tatsache, dass es hier konsequent vier Grad kälter ist als im Rest Deutschlands. Auch das Mensaessen wird keine schmerzliche Lücke hinterlassen, ebenso wenig wie die hässlichen Gebäude der PhilFak, in denen man sich sowieso nur verlaufen kann. 

Was ich in Marburg viel zu selten gemacht habe? Ich bin zu selten zum Schloss gelaufen, um den Sonnenuntergang anzuschauen. Ich bin viel zu spät auf die Idee gekommen, zum Marburger Abend zu gehen, und ins Theater und Konzert. Ich habe zu selten die Umgebung erkundet und zu wenig wertgeschätzt, wie viele berühmte Personen dieses Kopfsteinpflaster bereits vor mir betreten und welche bedeutenden Ereignisse hier eigentlich stattgefunden haben. 

Nobelpreisträger Emil von Behring, die Brüder Grimm – selbst der Mann, der den Bunsenbrenner erfunden hat, hat eine Zeit lang hier gelebt. Ich kann mich noch ganz genau an meine erste Begegnung mit einem Bunsenbrenner erinnern. An einem Mittwochnachmittag in der fünften Klasse saß ich im Naturphänomeneunterricht voller Ehrfurcht vor diesem Gerät. Und wie dieser Herr Bunsen soll auch ich später mal eine Zeit lang in Marburg gelebt haben? Hätte man das meinem Fünftklässlerinnen-Ich gesagt, hätte sie große Augen gemacht! 

Was ich in Marburg dafür viel zu oft gemacht habe? Zu denken, meine „Marburg-Experience“ sei „nicht gut genug“. Zu oft war ich so streng mit mir. Zu oft habe ich mich unter Druck gesetzt und mir vorgeworfen, nicht genug erlebt und aus dieser Zeit nicht genug gemacht zu haben. Dabei jagen wir alle nur einem unrealistischen Bild einer romantisierten Vorstellung des Studentenlebens hinterher, das vermutlich niemand jemals erreicht.

Gerade weil hier viele junge Menschen sind, kann Marburg manchmal auch ein schmerzhafter Ort sein. Solche Momenten können einsam fühlen lassen, wenn einem ständig und überall auf der Straße Menschen begegnen, die scheinbar genau das haben, was ich mir wünsche. Doch nur weil eine Gruppe junger Menschen auf der Straße an mir vorbeiläuft, heißt das noch lange nicht, dass die Person mit dem blauen Schal und der rosa Mütze auf der anderen Straßenseite nicht genau denselben Schmerz und dieselbe Angst in sich trägt.

Manche Dinge werden mir für immer ein Rätsel bleiben. Ob diese Spinnenstudie, deren Teilnehmeraufruf monatlich die Uni-Mails überschwemmt, jemals genug Freiwillige finden wird? Hat die Barfüßerstraße tatsächlich etwas mit dem Barfußgehen zu tun und warum gilt Auflauf als Marburger Spezialität? Außerdem habe ich noch immer keinen blassen Schimmer, in welchen Himmelsrichtungen Wherda, Ortenberg oder Cappel bitte liegen.

Wer hatte die geniale Idee, dass sich das graue Sparkassengebäude wunderbar in die malerische Fachwerkhäuserkulisse der Oberstadt einfügen würde? Und fällt nur mir auf, dass sich die Pride-Flagge nun schon den zweiten Sommer in Folge im Fenster der Alten Universität verheddert hat? Möchte die nicht mal jemand befreien, damit sie endlich wieder im Wind flattern kann? 

Schließlich ist da noch folgende Hassliebe: Marburg ist so klein, dass man ständig jemanden trifft und jede jeden kennt. Allerdings ist Marburg eben auch so klein, dass man ständig jemanden trifft und jede jeden kennt. Anonymität zu bewahren ist praktisch unmöglich, Diskretion ebenfalls. Person X kennt Person Y, was bedeutet, dass ich Person Z über Person Y kenne. Und übrigens ist Person X die Mitbewohnerin von Person Z und Person Y studiert mit einer Freundin meiner besten Freundin und so weiter und so fort…

Und dann wäre da noch die Sache mit dem Nebel. Mag ich ihn, wenn er mystisch über der Stadt schwebt, ihre Konturen sanft verwischt und alles in einen grauen Schleier hüllt? Oder ist die Nebelsuppe einfach nur bedrückend, wenn sie drei Tage später noch immer träge über der Lahn hängt und benommene Müdigkeit auf meine schweren Lider legt?

Lange Zeit wollte ich nur weg. Aus purem Fluchtinstinkt habe ich mich verschlossen und habe gedacht, dass es woanders besser wäre. Doch im letzten halben Jahr hat sich Marburg unbemerkt in mein Herz geschlichen. Jetzt ist sie auf einmal da, meine Marburgliebe, und macht mir das Weggehen schwer. 

Marburg ist weit mehr als seine Wahrzeichen. Marburg ist Teil meines Alltags geworden. Es sind Menschen und Erinnerungen. Es ist dieses ganz bestimmte Gefühl, das nur schwer in Worte zu fassen ist. Marburg ist nicht bloß eine Kulisse, der Ort, an dem ich mal studiert habe; es ist Zeugnis meiner persönlichen Entwicklung und eine Phase meines Lebens. Wenn ich in einer Woche in den Zug steige und sich die Tür mit einem lauten Zischen hinter mir schließt, bedeutet dieses Abschiednehmen auch, dass ich diese Phase hinter mir lasse.

Ach Marburg, ich werde dich in bester Erinnerung behalten. Schließlich soll man aufhören, wenn‘s am Schönsten ist. 

* Leonie Schulz

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