Eine Petition gegen „Digitalzwang“ hat der Verein „Digitalcourage“ am 23. Mai 2024 gestartet. Der Interessengruppe „LowVisionPlus“ im Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) hat Julia Witte von Digitalcourage das Projekt bei einer Telefonkonferenz vorgestellt.
In der Gruppe „LowVisionPlus“ sind blinde und sehbehinderte DVBS-Vereinsmitglieder versammelt, die zusätzlich noch mindestens eine weitere Behinderung haben. Das reicht von Hör-Sehbehinderung über eine Gehbehinderung oder Mobilitätsbeeinträchtigung bis hin zu neurologischen Beeinträchtigungen und anderen Behinderungen, die zu ihrer visuellen Beeinträchtigung hinzukommen. Angesichts ihrer Doppel- bis Mehrfachbehinderung sind diese Menschen in hohem Maße auf individuelle Lösungen und eine große Wahlfreiheit bei technischen und digitalen Hilfsmitteln angewiesen. Der Austausch mit der Expertin von Digitalcourage war für sie von großem Interesse, da er ihnen Anknüpfungspunkte für gemeinsame Anstrengungen zum Schutz der digitalen Wahlfreiheit als Grundlage ihres Teilhaberechts aufzeigen konnte.
Zunächst berichtete Witte von der Vorgeschichte des Projekts: Der Bielefelder Verein hatte mit einem Online-Tool namens „Digitalzwangmelder“ Meldungen über Fälle von Digitalzwang gesammelt und festgestellt, an welchen Stellen sich Muster abzeichnen. Häufig boten Unternehmen nur ihre eigene App als Möglichkeit zur Nutzung ihrer Dienstleistungen an, die dabei aber mit viel Tracking und wenig Datenschutz daherkam. Ein Ausweichen auf datenschutzkompatible Apps war oft gar nicht möglich.
Als Beispiele nannte sie den Paketdienst „DHL“ und dessen Packstationen: Die neue Version dieser Packstationen ist für Kundinnen und Kunden nur noch mit der App des Konzerns benutzbar. Ohne diese App ist es noch noch auf sehr kompliziertem Wege möglich, ein bei einer solchen neuen Station abgegebenes Paket abzuholen.
Auch die Deutsche Bahn wurde genannt: Dort wurde vor kurzem die physische BahnCard abgeschafft und sollte zunächst nur noch in der hauseigenen App „DB Navigator“ verfügbar sein. Nach zahlreichen Beschwerden wird nun auch ein Ausdruck akzeptiert. Allerdings ist auch dafür ein Online-Konto bei der Bahn erforderlich und der Konzern selber nennt diese Alternative „vorübergehend“.
Auch bei anderen Tickets gibt es seit einigen Monaten Einschränkungen: So hat die Bahn die Hinterlegung einer E-Mail-Adresse oder Mobilfunknummer zur Voraussetzung für den Kauf von Sparpreistickets gemacht. Dabei seien die Dienstleistungen dieser Anbieter dermaßen marktbeherrschend, dass ein Ausweichen auf andere Dienste auch kaum möglich wäre.
Hier setzten die Aktiven der Gruppe „LowVisionPlus“ an. Sie berichteten von Fällen, wo die Vorgabe einer App oder die Knüpfung der Bedienung beispielsweise von Hausgräten an eine App faktisch zur Ausgrenzung mehrfachbehinderter Blinder und Sehbehinderter führt. Auch der Einsatz von Touchscreens bei vielen Geräten sei für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen nicht akzeptabel. Barrierefreiheit bedinge immer auch die Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Wegen zur Informationsbeschaffung.
Der DVBS-Vorsitzende Werner Wörder warnte auch davor, Einstellungen zur Datensicherheit bei Apps auf Kosten der Barrierefreiheit für Behinderte durchzusetzen. Vielmehr müsse IT-Sicherheit immer unter Berücksichtigung der Belange behinderter Nutzerinnen und Nutzer umgesetzt werden. Er berichtete sogar von einem Fall, wo die Sicherheitseinstellungen seiner Ansicht nach zu weniger Datenschutz führen.
Zwei Teilnehmende berichteten davon, dass sie aus gesundheitlichen Gründen gar kein Smartphone nutzen können. Auch für Menschen, die sich ausschließlich analog bewegen, müsse es also weiterhin Angebote geben, die ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben garantieren. „Man muss auch immer die Möglichkeit haben, mit einem echten Menschen zu sprechen“, forderte Wörder.
Einig waren sich alle Teilnehmenden des konstruktiven und informativen Gesprächs darüber, dass eine größtmögliche Wahlfreiheit bei der Nutzung digitaler Dienste Voraussetzung für individuelle Lösungen sei, und damit mehr Teilhabe biete. Das beinhaltet die „Null-Option“ eines völligen Verzichts auf digitale Dienste ebenso wie die Möglichkeit zur Nutzung solcher Dienste und dabei auch eine Auswahl unterschiedlicher Apps und Programme. Für einige Menschen sei das Internet nicht nutzbar, während es anderen mehr Autonomie verschaffe. Bei einer Auswahlmöglichkeit unterschiedlicher Apps sei die Chance größer, barrierehaltige Apps umgehen und barriereärmere oder gar barrierefreie Angebote nutzen zu können.
Darum wird der DVBS die Petition von Digitalcourage unterstützen und weiterverbreiten. Auch andere Angebote des Bielefelder Vereins wie seine Hinweise zur digitalen Selbstverteidigung möchte er unter die Lupe nehmen, damit sie auch von den blinden und sehbehinderten Vereinsmitgliedern uneingeschränkt genutzt werden können. Insgesamt haben DVBS und Digitalcourage vereinbart, weiter im Gespräch zu bleiben und gemeinsam für ein menschenfreundliches und barrierefreies Internet sowie die Erhaltung einer Wahlfreiheit – insbesondere im Bereich der Grundversorgung -einzutreten.