Gut 500 Menschen waren am Samstag (10. November) zum Garten des Gedenkens gekommen. Dort fand die „Bessinnungsstunde“ zur Pogromnacht am 9. November 1938 statt.
„Nie wieder“, warnte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies, dürfe es einen derartigen Übergriff auf Menschen geben. Das Grauen der Shoa dürfte man niemals vergessen. Wer den Holocaust als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichne, der verharmlose damit nicht nur den industirellen Massenmord an mehr als 6 Millionen Menschen, sondern bereite zugleich das Feld für neuen Hass auf Andersgläubige, Andersdenkende oder anders aussehende Menschen.
Am Abend des 9. November 1938 brannten überall in Deutschland jüdische Gebetshäuser. Auch die Synagoge an der Universitätsstraße brannte völlig aus. Dabei schaute die Feuerwehr tatenlos zu und beschränkte sich darauf, die Nachbarhäuser vor einem Übergreifen der Flammen zu schützen.
91 Tote meldete die Hitler-Regierung damals als Opfer. Es sei erschreckend, wie lange diese offizielle Zahl der NSDiktatur nicht hinterfragt wurde, erklärte Spies. Heute wisse man, dass am 9. November mehr als 1.000 Menschen ermordet wurden und nochmals mindestens 400 weitere in den darauffolgenden Tagen.
Wer Menschen entrechte und der Verfolgung preisgebe, der verlasse damit den Boden der demokratischen Gesellschaft. Damals wie heute sei das nicht hinnehmbar, erklärte der Oberbürgermeister.
„Es waren Nachbarn“, bemerkte Spies. Trotzdem habe kaum jemand eingegriffen. Teils sei das aus Angst geschehen, teils aber hätten Schaulustige die Brandstifter auch angefeuert.
Eindrucksvoll solidarisierte sich anschließend der Ausländerbeirat der Stadt Marburg mit der jüdischen Gemeinde. Viele Juden mussten in den 30er und 40er Jahren aus Deutschland fliehen. Diese Erfahrung teilen einige Mitglieder des Gremiums, die sich mit eindringlichen Aussagen zum Holocaust äußerten.
„Wir sind in dieses Land gekommen und haben mit ihm auch seine Geschichte erhalten“, erklärte eine Sprecherin des Ausländerbeirats. „Deutschland ist nun unser Land und seine Geschichte ist auch unsere.“
Ebenso eindrucksvoll gestalteten Schülerinnen und Schüler der Elisabethschule die Gedenkstunde. „Gedenken ist Handeln“, zitierte eine Schülerin ein Gedicht aus dem Jahr 1993.
In einem szenischen Dialog führten sie eine Szene vor, in der der Opa seiner Enkelin eher widerwillig erklärt, warum der „Garten des Gedenkens“ heute diesen Namen trägt. Früher stand hier die neogotische Synagoge mit der glänzenden Kuppel aus roten und gelben Klinkersteinen, die im Sonnenlicht golden glänzten.
Sein bester Freund sei Jude gewesen, berichtete der Opa. Nachdem der Freund Marburg verließ, habe er nie wieder etwas von ihm gehört.
Zum Ausklang trugen Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Marburg zwei Gebete zuerst auf Deutsch und dann auf hebräisch vor. Eines besang die Trauer um die Toten der Konzentrationslager, während das „Kaddish“ als Glaubensbekenntnis zugleich zu jeder jüdischen Begräbniszeremonie gehört.
Mehr als 300 Juden lebten vor 1933 in Marburg. Spies bezeichnete es als Glück, dass die Jüdische Gemeinde heute wieder 500 Mitglieder zählt. Der Oberbürgermeister versprach für die gesamte Stadt, dass Marburg jeder Form von Antisemitismus immer entschieden entgegentreten werde.
* Franz-Josef Hanke