Neue Praxis: Hälfte der Lehramtsstudierenden unterrichtet schon an Schulen

Die Hälfte der Lehramtsstudierenden arbeitet bereits während des Studiums an Schulen. Das hat die hessenweite Studie „LABORA-HE“ gezeigt.
Die Hälfte von rund 5.000 befragten Lehramtsstudierenden in Hessen steht bereits während des Studiums regelmäßig im Klassenraum – und übernimmt dort auch Aufgaben, die in die Zuständigkeit vollständig ausgebildeter Lehrkräfte gehören. Das zeigt die neue hessenweite Studie „Lehramtsstudierende in Arbeit und Beruf: Organisation, Ressourcen, Aufgaben in Hessen“ (LABORA-HE), die im Wintersemester 2024/25 von den sechs lehrkräftebildenden Hochschulen des Landes durchgeführt wurde und die derzeit die größte Erhebung zum Thema in Deutschland ist. Insgesamt 50 Prozent der befragten Studierenden gaben an, neben dem Studium entweder ausschließlich an einer Schule (33 Prozent) oder sowohl an einer Schule als auch in einem anderen Bereich (17 Prozent) tätig zu sein.
Besonders häufig tun das Studierende für die Lehrämter für „Förderpädagogik“ mit 58 Prozent und an Grundschulen mit 56 Prozent. Im Schnitt arbeiten die Studierenden an Schulen rund neun Stunden pro Woche, wobei mit fortschreitendem Studium der Umfang der Tätigkeit an Schulen steigt. Dabei arbeiten bereits 33 Prozent der Studierenden im ersten Studienjahr an Schulen.
Die meisten der befragten Studierenden übernehmen schon früh im Studium anspruchsvolle Aufgaben: 90 Prozent unterrichten eigenständig im Klassenverband; 60 Prozent erstellen Unterrichtsmaterialien, über 50 Prozent führen Pausenaufsichten oder Förderunterricht durch. Selbst Notenvergabe, Klassenleitung oder Zeugniserstellung liegen bei bis zu 20 Prozent der Studierenden in eigener Verantwortung und das teils schon im ersten Studienjahr.
Nur 58 Prozent der befragten Studierenden werden laut Studie passend zu ihrem Studienprofil eingesetzt und unterrichten damit mindestens eines ihrer Studienfächer in einer Schulform, für die sie im passenden Studiengang eingeschrieben sind. Bei 42 Prozent der Studentinnen und Studenten trifft das nicht zu. Besonders deutlich wird das daran, dass in 24 von 26 Fächern die Mehrheit der Studierenden fachfremd unterrichtet – nur in Deutsch und Mathematik stimmen studiertes und unterrichtetes Fach meist überein. Damit zeigt sich, dass Studierende vielerorts oft jenseits ihrer angestrebten Qualifikation Lücken in der Unterrichtsversorgung schließen.
Studierende, die an Schulen arbeiten, schätzen sich selbst bereits in den ersten Semestern als kompetenter und beruflich gefestigter ein als ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen ohne diese Schulpraxis. Dabei lässt sich aufgrund der Querschnittsdaten der Studie nicht feststellen, ob die Tätigkeit an der Schule zu dieser Selbstscheinschätzung der Studierenden führt oder ob sich ohnehin sicherere Lehramtsstudierende eher für eine Erwerbstätigkeit an Schulen entscheiden. Gleichzeitig bewerten die an Schulen arbeitenden Studierenden die wissenschaftlichen Inhalte ihres Studiums teilweise als weniger relevant.
Zudem erleben sie häufiger Terminüberschneidungen zwischen Studium und Unterrichtspraxis. Eine institutionalisierte Begleitung über Mentorinnen und Mentoren oder dezidierte Reflexionsangebote fehlen in der Regel sowohl an den Schulen als auch an den Universitäten. Stattdessen findet der Austausch überwiegend privat oder informell statt.
Für die beteiligten Forschenden verweisen die Ergebnisse auf das Spannungsfeld der unbegleiteten Praxis im komplexen Berufsfeld Unterricht und Schule. Die Ergebnisse der Studie zeigen zwar, dass viele der befragten Studierenden sich in ihrem Berufsziel bestätigt fühlen. Gleichzeitig besteht aber deutlich das Risiko der De-Professionalisierung, da sich ohne professionelle Begleitung bereits früh im Studium aufgrund einer unreflektierten Praxis wenig tragfähige Haltungen verfestigen können. Zudem muss aufgrund der Befunde der Unterrichtsforschung davon ausgegangen werden, dass die Unterrichtsqualität aufgrund des breiten Einsatzes von fachfremd unterrichtenden Lehramtsstudierenden nicht unerheblich leidet. Das ist angesichts jüngster Befunde zu basalen Kompetenzen in der Grund- und Sekundarstufe besorgniserregend.
„LABORA-HE“ entstand aus dem – vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur geförderten – Projekt „PraxisFlex“ an der Philipps-Universität Marburg und wurde in enger Zusammenarbeit mit den lehrkräftebildenden Hochschulen – Justus-Liebig-Universität Gießen, Technische Universität Darmstadt, Goethe-Universität Frankfurt, Universität Kassel und Hochschule Fulda – umgesetzt. Mit einer Rücklaufquote von 27 Prozent aller hessischen Lehramtsstudierenden bietet die Studie eine solide empirische Grundlage für künftige Diskussionen über die Rolle von Studierenden in der Absicherung schulischen Unterrichts und des Ganztags.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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