Der Dorfladen Ginseldorf erhält den Jürgen-Markus-Preis 2024. Gewürdigt wird damit sein umfassendes Verständnis von Inklusion und die daraus abgeleitete Praxis.
Überreicht hat Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die Auszeichnung am Freitag (27. September) im Historischen Saal des Rathauses. Seit 2012 wird sie alle zwei Jahre verliehen und ist mit 20.000 Euro dotiert. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahren hat das – für die Auswahl der Preisträger zuständige – Kuratorium das gesamte Preisgeld diesmal auf ein einziges Projekt konzentriert.
Nach Aussage von Spies soll die Preisverleihung vor allem eine Haltung zum Ausdruck bringen: „Inklusion ist die Aufgabe ALLER, insbesondere allerdings derer, die keine Beeinträchtigung haben. Inklusion ist kein Kampfauftrag der Betroffenen, sondern die Bringschuld all derjenigen, die nicht betroffen sind. Inklusion nützt uns allen, macht uns selbst besser, offener, rücksichtsvoller und ist heute dringlicher denn je.“
Die Preisverleihung soll auch ein Zeichen setzen und zeigen, dass Inklusion als ein wesentlicher Teil zur Auffassung der Stadt zählt und zu einer guten Gestaltung der Stadt dazugehört. „Der Jürgen Markus Preis würdigt und fördert kreative und innovative Projekte, langfristiges Engagement (das ein Gewinn für die Stadt darstellt), kluge Ideen und Nachhaltigkeit“, erklärte Spies. Ein Effekt der Veranstaltung sei: „Menschen sollen sich angesprochen fühlen, dazu inspiriert und angeregt, darüber nachzudenken: wo kann ich selbst etwas tun, um Inklusion und Barrierefreiheit zu fördern?“
Zunächst legte Hilde Rektorschek Rechenschaft über das Preisgeld ab, das ihr Projekt als Träger des Jürgen-Markus-Preises 2022 erhalten hat. Im Wesentlichen sei es ausgegeben worden für Weiterbildungen und Reisen der behinderten Sportlerinnen und Sportler zu Wettkämpfen. Da die meisten der Menschen in den beiden Basketballmannschaften in Werkstätten für Behinderte (WfB) arbeiten, könnten sie solche Fahrten nicht aus eigener Tasche finanzieren.
Eindrucksvoll beschrieb Rektorschek Erlebnisse bei Trainings und Wettkämpfen, bei denen ihre Teams sogar Deutschland bei den Special Olympics in Berlin vertreten hatten. Seien die Behinderten anfangs noch skeptisch beäugt oder mit abweisenden Blicken betrachtet worden, so hätten viele Menschen nun sogar Selfys mit ihnen gemacht und sie zu ihren sportlichen Leistungen befragt. Für kommende Wettkämpfe habe der BC Marburg noch eine kleine Finanzreserve zurückgelegt, denn die nächsten Runden beim Basketball für Behinderte stehen bevor.
Zur diesjährigen Runde eingereicht worden waren acht Bewerbungen, die Barrierefreiheit auf verschiedene Weise umsetzen. Die Aufgabe des Kuratoriums war, Projekte zu identifizieren, die über die Standards hinausgehen. Bei der diesjährigen Verleihung wurde insbesondere ein innovativer Charakter zum entscheidenden Kriterium.
Nach zwölf Jahren als Vorsitzende des Kuratoriums ist Susanne Holz aus dieser Funktion ausgeschieden. Die Stelle der Witwe von Jürgen Markus hat nun Prof. Dr. Klaus Bendel eingenommen. Der orsitzende des Kuratoriums zur für Vergabe des Jürgen Markus Preises war ein persönlicher Freund des Namensgebers der Auszeichnung.
„Dass Familie, Freunde und Menschen aus dem persönlichen Umfeld von Jürgen Markus stets für die Verleihung des Preises anreisen und an der Veranstaltung teilnehmen ist etwas sehr Besonderes“, erklärte er. Das Ziel des Preises sei, insbesondere, die Ziele der Inklusion und Barrierefreiheit, die Jürgen Markus verfolgte, voranzubringen und zu fördern.
Eine Einreichung wurde zwar nicht mit einem Preis gewürdigt, aber ausdrücklich vorgestellt: Stefan Deichmann hatte gefordert, Toiletten auch mit Liegemöglichkeiten für Menschen auszustatten, die dergleichen bei ihren Toilettengängen benötigen. Es sei entwürdigend, wenn Betroffene auf dem Fußboden oder der Straße liegend auf den Gang zur Toilette vorbereitet werden müssen. Die Stadt habe indes versprochen, diese Anregung bei ihrem Projekt „Toiletten für alle“ zu berücksichtigen.
„Inklusion bedeutet, Lebensverhältnisse zu schaffen, die die unterschiedlichen Barrieren und individuellen Lebensumstände aller berücksichtigen“, betonte Bendel. „Es geht um einen Perspektivwechsel und darum Bedingen und Voraussetzungen für die Teilnahme aller zu schaffen.“ Dieses Verständnis von Inklusion verfolge der diesjährige Preisträger auf vorbildliche Weise. Darum hat das Kuratorium den Verein „Dorfladen Ginseldorf“ einmütig zum alleinigen Preisträger auserkoren. Ausschlaggebendes Kriterium war das umfassende und ganzheitliche Inklusionsverständnis des beispielhaften und nachhaltigen Projekts.
Für Wiltrud Thies vom Dorfladen Ginseldorf ist der Jürgen-Markus-Preis zugleich eine Auszeichnung der bisherigen Arbeit sowie Rückenwind und Verpflichtung. Sichtlich gerührt und überwältigt, freute sie sich sehr und zeigte sich „dankbar für das Gesehen werden“. Als erste Aufgabe des Dorfladens nannte sie die Sicherstellung der Nahversorgung durch den Laden. Hinzu komme das Gemeinschaftserlebnis im Dorf und die Stärkung des Dorflebens.
Ein weiterer wichtiger Punkt der Arbeit ist die Sicherstellung der Mobilität aller Menschen in Ginseldorf. Das beginnt beim Carsharing mit Elektroautos und dem Verleih von E-Bikes, beinhaltet aber auch einen Fahrdienst für Dorfbewohner ohne Führerschein und einen Bringdienst der Ladenprodukte. Das Leben im Dorf weiterentwickeln sollen vor Allem Projekte, bei denen insbesondere Nachhaltigkeit im Fokus steht.
Als Treffpunkt der Bevölkerung hat sich der Dorfladen inzwischen zur festen Institution gemausert. Besonders gefreut hat Thies, dass er zum wöchentlichen Frühstückstreff der „Ping-Pong-Parkinson-Gruppe“ (PPP) geworden ist. Ihr nächstes Projekt ist ein Café im und am Laden.
Doch bereits jetzt organisiert oder beherbergt der Dorfladen zahlreiche Veranstaltungen. Wichtig sei dabei das gewachsene Verständnis der Ginseldorfer Vereine, dass „niemand neidich gegen den anderen ankämpft, sondern alle an einem Strang ziehen“. Während der Ortsvorsteher als Mittler zur Stadt bei der Umsetzung von Projekten mehr Geduld aufbringe, seien die Aktiven des Dorfladens manchmal ein wenig ungeduldiger, bemerkte Thies.
Das Inklusionsverständnis der ehemaligen Sonderschulleiterin zielt darauf ab, Barrieren abzubauen sowie „Aufmerksamkeit für individuellen und verschiedene Bedarfe und Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen“ aufzubringen. Kern sei dabei gegenseitige Hilfe und Unterstützung.
Thies und der Dorfladen wollen „In Bewegung bleiben, die Alltagstauglichkeit unserer Angebote immer wieder überprüfen: Was sind die Themen, was ist wirklich wichtig, wo drückt der Schuh?“ Ehrenamt und Inklusion gehören für Thies untrennbar zusammen.
Dabei betrachtet sie die zwei Seiten des Ehrenamts: „Geben und Zurücknehmen, wobei alle gewinnen. Sie erläuterte: „Es geht darum, im Kleinen zu zeigen, wie wir als Gesellschaft leben wollen: kleine gallische Dörfer zu bilden, nach dem Motto „so wollen wir leben“ und gegen Exklusio! Inklusion ist der richtige Entwurf für eine lebenswerte Zukunft für alle.“