Differenziert denken: Habe den Mut, Deinen Verstand zu gebrauchen

„Das Denken kannst Du getrost den Pferden überlassen“, hat meine Großtante manchmal gesagt. „Sie haben einen größeren Kopf.“
Die Reaktion der alten Dame auf verwegene Überlegungen ihres naseweisen Großneffen habe ich natürlich nie beherzigt. Mich hat vielmehr der Ausspruch von Immanuel Kant ermutigt, mir meine eigenen Gedanken über mancherlei Entwicklungen in Gesellschaft und Politik zu machen. Bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts hat der Königsberger Philosoph die Menschen aufgefordert: „Habe den Mut, Deinen Verstand zu begrauchen!“
Vor 250 Jahren hat es sicherlich manches an Mut gekostet, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Zu Zeiten der allgegenwärtigen Handys und zunehmender Nutzung sogenannter „Künstlicher Intelligenz“ hingegen scheint mir der ätzende Spruch meiner Großtante fröhliche Urständ zu feiern. Allerdings sind es heute nicht Tiere, denen die Mitmenschen das „Denken“ überlassen, sondern elektronische Systeme.
„Das Denken kannst Du getrost dem Handy überlassen“, scheinen heutzutage viele zu meinen. „Es hat einen größeren Speicher.“ Gemeint ist damit das Worldwide Web.
Was bei diesem Vorgehen allerdings auf der Strecke bleibt, sind Muße und Nachdenklichkeit sowie das kritische Reflektieren eigener Positionen. Heraus kommt dabei dann oft ein kurzatmiges Schwarz-Weiß-Denken ohne differenzierte Abwägungen des Für und Wider unterschiedlicher Positionierungen zu Problemen. Solche „Denkmuster“ sind überaus empfänglich für plumpen Populismus und platte Parolen.
Rasch reagieren auch Regierende so reichlich unüberlegt auf Attentate mit übertriebener Härte gegen Geflüchtete. Verfassungsfeindliche und menschenverachtende Forderungen werden von Medien servil weiterverbreitet, obwohl sie weder einer rechtlichen Prüfung standhalten, noch realistisch durchsetzbar sind. Wenn selbst eine Innenministerin dergleichen betreibt, dann wäre ein Wahlsieg der Urheber dieser rechtspopulistischen Hetze in Thüringen und Sachsen wirklich kein Wunder.
So schlimm Mordanschläge wie beim Stadtfest in Solingen oder in einem Bus in Siegen auch sind, so wenig helfen dagegen Abschiebungen nach Syrien oder Afghanistan. Wer rechtsradikale Forderungen nach einer „Remigration“ auf solche Weise stärkt, der fügt zum Terror einiger weniger Krimineller noch den Terror vieler reaktionärer Menschenfeinde hinzu. Da kann man nur froh sein, dass wenigstens in Marburg noch eine breite Basis für erfolgreichen Protest gegen Martin sellner und gegen andere rechte Hetzer besteht.

* Franz-Josef Hanke

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