Mehr als 200 Menschen haben am Samstag (27. Mai) gegen Ausgrenzung und Behindertenfeindlichkeit demonstriert. Aufgerufen hatte das „Bündnis 5. Mai“.
Der Leitgedanke der Demonstration war geschichtliche Erinnerung als Mahnung und Forderung. Sie fand im Rahmen des „europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung“statt. „Angefangen hat der Massenmord der Nazis an mehr als sechs Millionen Menschen mit der Zwangssterilisierung behinderter Menschen“, erinnerte Initiator Bernd Gökeler vom „Netzwerk für Teilhabe und Beratung“ (NTB) an die sogenannte „Euthanasie“ der Nationalsozialisten.
Am 1. Januar 1934 trat im Deutschen Reich das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. In den folgenden Jahren wurden über 350.000 Personen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen zwangssterilisiert. Ab 1940 wurden mehr als 70.000 Behinderte als „unnütze Esser“ und angeblich „lebensunwertes Leben“ diffamiert und ermordet.
Von 1934 bis 1937 wurden auch in der Marburger Landesheilanstalt zirka 300 Menschen zwangssterilisiert. Zudem brachten „graue Busse“ Patienten der Cappeler Psychiatrie in die Gaskammer nach Hadamar. Dennoch konnte der –
durch seine Aktivitäten während der Nazi-Zeit belastete – Psychiater Prof. Dr. Werner Eicke nach dem Krieg die Leitung der Marburger Anstalt übernehmen und bis 1988 in Marburg als Arzt praktizieren.
Heute firmiert die Psychiatrische Einrichtung an der Cappeler Straße unter dem Namen „Vitos-Klinik“. Dort versammelten sich die Demonstrierenden am Samstagmorgen, um gemeinsam der Opfer des nationalsozialistischen Massenmords zu gedenken. Anschließend zogen sie über die Cappeler Straße zum Kreishaus, wo sie bei einer Abschlusskundgebung vor rechtspopulistischen Tendenzen und Parallelen zur Nazi-DDiktatur warnten.
„Die Abwertung von Menschen ist der schlimmste Angriff auf die Demokratie“, erklärte Gökeler. Er forderte Marburg zu einer aktiveren Gedenkkultur auf, die auch Konsequenzen für heutiges Handeln ziehen müsse. Den rechtspopulistischen Tendenzen müsse man sich auch dadurch entgegenstellen, dass man die Rechte alter, behinderter und kranker sowie homosexueller Menschen ebenso schütze wie die von Geflüchteten.
In Grußworten bekundeten der Kreistagsvorsitzende Detlef Ruffert, Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies und der CDU-Landtagsabgeordnete Dirk Bamberger ihre Solidarität mit den – überwiegend – behinderten Demonstrierenden. Gekommen waren Menschen vom Kindes- bis zum Rentenalter mit und ohne Behinderung. Sie alle einte das Versprechen, dass so etwas wie der Massenmord der Nazis an Behinderten, Schwulen, Roma und Sinti, Kommunisten und Christen sowie Jüdinngen und Juden nie wieder möglich werden darf.
Einen Blick auf die jüngere Geschichte der deutschen Behindertenbewegung und ihre aktuellen Forderungen wirft die Aktionslesung „Zündeln an den Strukturen“ mit Ottmar Miles-Paul am Donnerstag (2. Mai) um 19 Uhr im Vila Vita Hotel Rosenpark an der Anneliese-Pohl-Allee. Der „Vater der selbstbestimmten Behindertenbewegung in Deutschland“ stellt dort seinen ersten Kriminalroman vor, der anhand eines Brandanschlags auf eine Behindertenwerkstatt die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt thematisiert. Einmal mehr zeigt sich Marburg damit als eine aktive Metropole der Behindertenszene.
* Franz-Josef Hanke
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