Der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess begann am 20. Dezember 1963. Zum 60. Jahrestag dieses wegweisenden Strafverfahrens sprach der damalige Anklagevertreter Gerhard Wiese am Montag (20. November) in Marburg.
Eingeladen zum Zeitzeugengespräch mit dem 95-jährigen Juristen hatte das Internationale Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) an der Philipps-Universität. Eine lange Schlange vor dem großen Hörsaal im Landgrafenhaus bezeugte das große Interesse von Studierenden wie auch der Öffentlichkeit an Wieses Erinnerungen und seiner Arbeit als Anklagevertreter im größten deutschen Strafverfahren gegen NS-Straftäter im Konzentrationslager Auschwitz. Auch Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies, Universitäts-Vizepräsident und Dekant Prof. Dr. Markus Roth vom Fachbereich Rechtswissenschaften betonten ihre Freude darüber, dass Studierende diese Veranstaltung angeregt hatten.
Mit großer Aufmerksamkeit und wachem Interesse verfolgten sie Wieses Ausführungen zur Vorgeschichte, zum Ablauf und dem Ergebnis sowie zu Nachwirkungen des historischen Strafverfahrens. Sie begannen mit einem Rückblick auf Wieses Jugend und die Einberufung des 15-jährigen Jugendlichen als Flak-Helfer in den Zweiten Weltkrieg sowie seine anschließende russische Kriegsgefangenschaft. Nur als „Notlösung“ habe er anschließend in Berlin Jura studiert, was das Publikum mit verwundertem Gelächter quittierte.
Im Sommer 1962 wurde er dann von seinem Vorgesetzten bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt als „dritter Mann“ dem Ermittlungsteam der dortigen Auschwitz-Prozesse zugeteilt. Zusammen mit den Staatsanwälten Joachim Kügler und Georg Friedrich Vogel vertrat Wiese die Anklage, wobei er die Anklageschrift gegen Wilhelm Boger und Oswald Kaduk verfasste. Wiese berichtete von einem vorangegangenen Gespräch mit dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der ihn für diese Aufgabe ausgewählt hat.
„Was ist mit der Gedächtniskirche?“ Auf Bauers Frage habe er geantwortet: „Die muss wiederaufgebaut werden.“ Dem habe Bauer widersprochen, woraufhin sich eine längere kontroverse Debatte ergab.
Ob Wieses Beharren auf der eigenen Position ein Grund für Bauer war, ihn dem Anklageteam zuzuordnen, „das ist einfach so schön, dass wir das glauben wollen“, meinte Prof. Dr. Stefanie Bock vom ICWC schmunzelnd. Jedenfalls hatte Bauer bei der Auswahl der Anklagevertreter Wert darauf gelegt, dass keiner von ihnen bereits zur Nazi-Zeit Staatsanwalt war. Ihm war wichtig, dass sie unvoreingenommen und gewissenhaft arbeiteten.
Wiese konnte bei seiner Arbeit auf die vorherigen Ermittlungen seiner beiden Kollegen zurückgreifen, die für jeden Angeklagten ein eigenes Heft mit allen – ihn betreffenden – Aussageprotokollen und Dokumenten angelegt hatten. Mehrmals betonte Wiese den gigantischen Umfang der Akten und die damit verbundene Arbeit. Alle Schriftstücke mussten die Schreibkräfte mit einer mechanischen Schreibmaschine auf Matritze tippen, was im Vergleich zur heutigen Technik sicherlich einen erheblichen Mehraufwand bedeutete.
Auf die Frage nach demjenigen Zeugen, der ihm am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben ist, nannte Wiese einen Arzt aus Ungarn mit Namen, der mit seiner Familie zur Rampe in Auschwitz kam. Dort erkannte er einen SS-Mann, der die Selektion durchführte, als Pharma-Vertreter, der ihn früher des Öfteren in seiner Praxis besucht hatte. Der Arzt bat ihn, dafür zu sorgen, dass er mit seiner Frau und seinen Zwillingen zusammenbleiben könne.
Daraufhin habe der SS-Mann zu Dr. Josef Mengele hinübergeschaut, der neben ihm an der Rampe stand. Mengele habe jedoch abgewinkt, da die Kinder keine eineiigen Zwillinge waren. Da er sich nur für die Forschung an eineiigen Zwillingen interessierte, schickte er die Frau und die Kinder in die Gaskammer.
Mucksmäuschenstill sei es bei dieser Vernehmung gewesen, erinnerte sich Wiese. Ohnehin sei es immer ruhig gewesen bei den Auschwitz-Prozessen, aber ganz besonders still bei dieser Zeugenaussage. Ebenso still war es auch im Landgrafenhaus, als Wiese diese Begebenheit berictete.
Als weitere beeindruckende Persönlichkeit nannte Wiese die Übersetzerin, die ihre überaus schwierige Aufgabe mit größtem Geschick und Fingerspitzengefühl durchgeführt habe. „Viele Zeugen aus Polen oder anderen Ländern kamen zum Prozess das erste Mal nach der Shoa ins Land der Täter und wollten sich dann auf ihre Aussage vorbereiten“, erklärte Wiese. „Vielen versagte die Stimme angesichts der Greuel, die sie in der Erinnerung noch einmal durchmachen mussten.“
Zudem habe es Polizisten gegeben, die bei ihrer Zeugenaussage den Nazi-Angeklagten salutierten. Diese beklemmende Erfahrung habe die Dolmetscherin den Zeuginnen und Zeugen dadurch erleichtert, dass sie nicht nur den Wortlaut ihrer Aussagen übersetzte, sondern das auch in deren Tonfall ausdrückte. „Das war wirklich eine Meisterleistung“, betonte Wiese beeindruckt.
Auf die Frage, ob er mit dem Ergebnis des Verfahrens zufrieden sei, antortete Wiese mit einem klaren „Nein“. Nur 17 der 22 Angeklagten seien überhaupt verurteilt worden. Bei einigen seien die Strafen viel zu gering ausgefallen.
Erst 2017 habe sich die Rechtsauffassung der Frankfurter Anklagevertreter durchgesetzt, dass die Beihilfe bereits darin besteht, beim Betrieb eines Vernichtungslagers mitgewirkt zu haben. Bis dahin habe die konkrete Tatbeteiligung an Erschießungen oder anderen Mordtaten in jedem Einzelfall nachgewiesen werden müssen. Angesichts fehlender Dokumente aufgrund der Vernichtung durch die SS vor Aufgabe der Lager sei das in vielen Fällen sehr schwierig gewesen.
Auch die Kontinuität der Nazi-Karrieren nach Kriegsende war Thema des Zeitzeugen-Gesprächs am Montagnachmittag. So konnte beispielsweise der Altnazi Eduard Dreher nach Kriegsende beim Justizministerium in der Bonner Rosenburg weiterarbeiten und eine Regelung unbemerkt in ein Gesetz hineinschmuggeln, die ein bereits vorbereitetes Strafverfahren gegen Nazi-Täter unmöglich machte. Letztlich habe Deutschland bis heute nicht wirklich gelernt aus den Greueltaten der Shoa, meinte Wiese unter Verweis auf den erstarkenden Rechtspopulismus und antisemitische Hetze sowie Rassismus.
Dennoch will Wiese weitermachen mit seinen Vorträgen vor Schulklassen und Studierenden. „Mich unterstützen die Anne-Frank-Stiftung und die GEW“, berichtete er. „Die haben geglaubt, zum Jahresende sei Schluss mit den Auftritten des Alten; aber ich habe bereits einen Termin am 24. Januar 2024.“
Mit langanhaltendem Applaus und stehenden Ovationen bedankten sich die Anwesenden am Schluss für den berührenden Vortrag eines beeindruckenden Menschen. Dass der Bundespräsident ihm erst 2017 das Verdienstkreuz am Bande verliehen hat, ist ein beschämender Beleg für die – immer noch mangelhafte –
Aufarbeitung des faschistischen Unrechts und der Verstrickung vieler Behörden auch der Bundesrepublik in dieses rassistische Denken. Das „nie wieder“ aus Wieses Mund klang sehr kämpferisch, auch wenn Wiese betonte, er könne „nicht verstehen, dass die Menschen so wenig lernen“.
*Franz-Josef Hanke
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