Der 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Auch in Marburg gab es zahlreiche Opfer der Shoa, viele Täter und Mittäter sowie einige Menschen im aktiven Widerstand gegen den Faschismus.
Eines der ersten und prominentesten Opfer war der Sprachwissenschaftler Prof. Dr Hermann Jacobsohn. Dem Kommissarischen Leiter des Deutschen Sprachatlas teilte der damalige Universitätsrektor Prof. Dr. Ernst von Hülsen am 25. April 1933 mit, dass er aufgrund des nationalsozialistischen Berufsbeamtengesetzes als Jude aus dem Staatsdienst entlassen sei. Zwei Tage später warf Jacobsohn sich am Südbahnhof vor einen Zug.
An den jüdischen Gelehrten erinnert heute ein „Stolperstein“ vor seinem Wohnhaus Schückingstraße 24 sowie der Hermann-Jacobsohn-Weg, der die Weintrautstraße mit dem Spiegelslustweg verbindet. Jacobsohns Nachfahren leben auch heute noch in Marburg und engagieren sich gegen Antisemitismus, Faschismus und Krieg.
Ebenso wie ihm erging es auch Prof. Dr. Erich Auerbach. Der Romanist wanderte nach seiner Abberufung aus dem Marburger Universitätsdienst in die Türkei aus, wo er auf Einladung des türkischen Staatspräsidenten Mustafa Kemal Pascha „Atatürk“ eine Universität nach westeuropäischem Vorbild mit aufbaute und auch sein Hauptwerk „Mimesis dargestellte Wirklichkeiten“ über das gemeinsame kulturelle Erbe der Menschheit verfasste. In einem Briefwechsel mit dem Philosophen Dr. Walter Benjamin bedauerte er bereits vorher, dass durch die nationalsozialistische „Blu-Bo-Propaganda“ das Bewusstsein dafür verlorengegangen sei, „dass der Geist nicht national ist“.
Bis an sein Lebensende hat Auerbach vergeblich darauf gedrungen, seine Professur an der Philipps-Universität zurückzuerhalten. Mit dem Verweis, seine Professuren in Harvard und Yale seien doch mit höchster Reputation verbunden, verweigerte ihm die Universitätsleitung bis zu seinem Tod und seinem Sohn Clemens Auerbach sogar noch darüber hinaus die Anerkennung des Unrechts, das die Universität durch seine Entlassung aus dem Dienst begangen hatte.
Nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat sich die Philipps-Universität auch mit Auerbachs Assistenten und Nachfolger Prof. Dr. Werner Krauß. Er gehörte einer Widerstandsorganisation an, die die Geheime Staatspolizei (GeStaPo) mit der Bezeichnung „Die rote Kapelle“ als angebliche russische Geheimorganisation diskreditierte. Ein Verhör des Wissenschaftlers über seine Bibliothek und den Besitz des angeblich „völlig verjudeten“ Romans „Der Zauberberg“ von Thomas Mann hat die Humanistische Union (HU) am 10. Mai 2019 aus Anlass des Jahrestags der nationalsozialistischen Bücherverbrennung am Tatort vor der Marburger GeStaPo-Zentrale im Kilian am Schuhmarkt nachgestellt.
Zwar wurde Krauß nach seiner Beteiligung an einer Flugblattaktion gegen eine Nazi-Propagandaausstellung von nahmhaften Wissenschaftlern vor einer Vollstreckung des – gegen ihn verhängten – Todesurteils mit Hilfe von psychiatrischen Gutachten gerettet, doch sabotierten die Professoren an der Philipps-Universität nach Kriegsende seine Arbeit in einem Gremium der Universität zur Entnazifizierung des Lehrkörpers. Enttäuscht übersiedelte er dann in die sowjetische Zone und engagierte sich dort in der sogenannten „Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ (SED), was seine wissenschaftliche Reputation in Westdeutschland völlig zerstörte. In Frankreich hingegen genoss Krauß höchste Anerkennung, die ihm in Marburg jedoch bis heute versagt blieb.
Im Konzentrationslager Theresienstadt starb am 22. März 1944 das erste weibliche Magistratsmitglied der Universitätsstadt Marburg an Unterernährung. Dr. Hedwig Jahnow war 1919 ins Stadtparlament gewählt worden. Nach ihrem Ausscheiden aus dem Gremium im Jahr 1924 wurde sie ein Jahr später zur stellvertretenden Direktorin der Elisabethschule ernannt.
Aufgrund jüdischer Vorfahren wurde sie 1935 jedoch entlassen. 1942 verurteilte ein Gericht sie wegen „Abhörens von Feindsendern“ zu einer Zuchthausstrafe,. Von dort wurde sie dann ins Lager Theresienstadt überstellt, wo sie schließlich starb.
An Jahnow erinnert heute eine nach ihr benannte Straße sowie ein „Stolperstein“ vor ihrem Wohnhaus an der Wilhelmstraße. Zudem hat die Philipps-Universität ein Projekt nach ihr benannt. Tragisch ist, dass ihre Bemühungen einer Aufnahme in England 1938 an ihrem damals bereits hohen Alter scheiterten, da die britischen Behörden nur junge Flüchtlinge aufnehmen wollten.
Wesentlich leichter als sie hatten es hingegen selbst nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft selbst hochrangige Nazi-Täter wie der Arzt Prof. Dr. Wilhelm Pfannenstiel. Als wissenschaftlicher Chefberater des sogenannten „Euthanasie“-Programms „T4“ war er maßgeblich mitverantwortlich für die Ermordung von mindestens 300.000 Behinderten als angeblich „lebensunwertes Leben“. Den SS-Standartenführer hatte BliStA-Gründer Prof. Carl Strehl sogar in den Vorstand der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) berufen, wo er bis Kriegsende die Ungleichbehandlung von Kriegserblindeten und „erbkranken“ Blinden durchsetzte.
Nach seinem Lehrverbot durch die US-amerikanische Besatzungsmacht unmittelbar nach Kriegsende drückte Strehls Ehefrau in einem Brief der Frau des hochrangigen Nazi-Verbrechers ihr Bedauern darüber aus, wie „ungerecht“ mit ihm verfahren worden sei. Für seine Behilfe zum Massenmord an Behinderten wurde Pfannenstiel jedoch ebensowenig zur Rechenschaft gezogen wie der Psychiater Dr. Werner Eicke, der auch nach Kriegsende weiterhin Leiter des Psychiatrischen Krankenhauses (PKH) an der Cappeler Straße blieb, obwohl er sich an der Aussonderung von Patientinnen und Patienten und ihrer Überstellung in die Vernichtungsanstalt Hadamar beteiligt hatte. Bis 1988 praktizierte Eicke in Marburg noch unbehelligt als Psychiater.
Wenig bekannt sind Menschen, die andere vor der Verfolgung geschützt oder versteckt haben. Auch in Marburg muss es solche tätige Überlebenshilfe gegeben haben. Häufig haben diese Helfer jedoch geschwiegen und ihre Aktivitäten als „selbstverständlich“ bezeichnet, weil sie jedem Heldentum abhold waren und Ressentiments von Alt-Nazis fürchteten.
Trotz des – oft lebensgefährlichen – Einsatzes für Verfolgte war die Zahl der Opfer des Faschismus riesig. Viele Namen bleiben ungenannt. Viele Schicksale sind kaum zu beschreiben angesichts der unvorstellbaren Brutalität der Vernichtungslager.
Vergessen darf die Menschheit sie nicht. Wenn schon die meisten Verbrechen unbestraft und ungesühnt bleiben werden, muss doch wenigstens das Gedenken gepflegt werden. Am besten geschieht das durch ein konsequentes Eintreten für Demokratie und Menschlichkeit sowie gegen Antisemitismus, Rassismus und die Diskriminierung Behinderter, Homosexueller und Andersdenkender.
* Franz-Josef Hanke