Statt einer Veranstaltung auf dem Friedhof hat zum Volkstrauertag 2022 eine Lesung im Rathaus stattgefunden. Sie diente zugleich als Finissage der Ausstellung „Wounded: The Legacy of War“.
Seit 1952 findet in Deutschland der Volkstrauertag zwei Wochen vor dem ersten Adventssonntag statt. Der staatliche Gedenktag soll an die Opfer von Krieg und Gewalt erinnern. Die Universitätsstadt Marburg hat das Gedenken in diesem Jahr bewusst in einer neuen Form gestaltet.
Eindrucksvolle Bilder von Kriegsversehrten. Wunden und Stümpfe, Spuren von Gewalt – aber zugleich und an erster Stelle die Würde des Menschen –
spielten sowohl in der Ausstellung eine Rolle, die eineinhalb Monate lang täglich im Rathaus zu sehen war, wie auch im Debütroman „Junge mit schwarzem Hahn“ der Marburger Autorin Stefanie vor Schulte.
Der kanadische Musiker und Fotograf Bryan Adams hat diese Spuren fotografisch dokumentiert. in vor Schultes Roman zeichnet sie ein Junge in Zeiten eines fiktiven Kriegs. Die Kunst, sowohl Bilder als auch Geschichten, diene dazu, das Wesentliche im Auge zu behalten, erklärte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies im Historischen Saal des Rathauses.
Über Bilder und Geschichten sei es möglich, sich hineinzudenken und nachzuerleben, was es heißt, in einer Zeit des Krieges zu leben, erklärte Spies. „Lassen wir uns berühren und bewegen“, rief das Stadtoberhaupt die rund 60 Besucherinnen und Besucher der Lesung auf.
Mit diesem Ansatz geht die Universitätsstadt neue Wege – die traditionelle Form des Gedenkens mit einer oft erstarrten Abfolge habe sich zunehmend überlebt, erläuterte Spies. „Wir wollten dem Gedenken eine aktuellere und Marburg-gemäßere Form geben.“ Insbesondere in einer Zeit, in der das Thema Krieg wieder so aktuell sei wie schon lange nicht mehr.
Bereits im Vorfeld des Volkstrauertags hatte die Stadt deshalb die international renommierte Ausstellung „Wounded: The Legacy of War“ im Stadtjubiläumsjahr nach Marburg geholt. Unter diesem Titel hat Bryan Adams junge britische Kriegsveteran*innen portraitiert.
„Mit seinen Fotografien lassen uns die Menschen in ihre Seele blicken“, erklärte Kuratorin Anke Degenhard. „Sie führen die Schrecken des Krieges so leibhaftig vor Augen.“ gemeinsam mit Mat Humphrey war sie für die Ausstellung in Marburg zuständig.
Adams selbst sagt über die Menschen, die er fotografiert hat: „Sie mussten ertragen, dass sie bei den alltäglichen Dingen des Lebens angestarrt und sogar ausgegrenzt wurden wegen sichtbarer und unsichtbarer Narben, Verbrennungen höchsten Grades, Verstümmelungen an Armen und Beinen.“ Durch die Kunst des Fotografen und die Charakterstärke der Veteran*innen seien die Werke zugleich eine Hommage an das Leben und ein Zeugnis des Krieges, erläuterten die beiden Kuratoren.
Auch in vor Schultes Roman „Junge mit dem schwarzen Hahn“ müssen Menschen mit den Folgen eines Krieges kämpfen. Die Geschichte spielt vor rund 500 Jahren; allerdings ist sie letztlich in einer „Nicht-Zeit“ und an einem „Nicht-Ort“ angesiedelt, wie die Autorin bei der Lesung am Sonntag (13. November) sagte. Dieser Tatsache sei auch geschuldet, dass der Roman in vielen Rezensionen mit dem Begriff eines „Märchens“ assoziiert wird.
Dr. Friederike Wissmach vom Marburger Literaturforum, die die Lesung moderierte, stellte die Sprache des Romans in die Tradition mündlicher Überlieferungen. „Ich schreibe immer vom Bild her“, erklärte vor Schulte.
Das kommt nicht von ungefähr: Die 1974 in Hannover geborene Autorin ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Für ihr Romandebüt erhielt sie im vergangenen Jahr den mit 20.000 Euro dotierten Mara-Cassens-Preis.
Der titelgebende Junge mit schwarzem Hahn ist Martin. Er ist elf Jahre alt und ein Sonderling im Dorf. Nicht der klassische „reine Tor“, wie Stefanie vor Schulte erläuterte. Er sei ein Kind „mit klugen Gefühlen“.
Den schwarzen Hahn, den er stets bei sich trägt, bezeichnete sie als einen Mahner und Erinnerer, diesen klugen Gefühlen zu folgen. In den Augen der Dorfbewohner jedoch ist er ein „Tier des Teufels“.
Als Kind hat Martin mit ansehen müssen, wie der Vater Mutter und Geschwister erschlug. Gewalt und Düsternis, Angst und Entbehrungen bestimmen die Atmosphäre. Jedes Jahr wird aufs Neue ein Kind im Dorf entführt.
Wo die anderen eine Gespensterfigur fürchten, macht Martin sich auf die Suche nach dem jüngst entführten Mädchen, das er retten will. Denn: „Ein gerettetes Leben ist alle Leben“. Martin schließt sich dem Maler an, der in der Dorfkirche ein Altarbild gefertigt hat.
Auf der gemeinsamen Reise beginnt er , die Wunden der Kriegsversehrten zu zeichnen. Das ist ein direkter thematischer Bezug zur Ausstellung „Wounded“.
* pm: Stadt Marburg