In Marburg kenne ich nur eine einzige Weinstube. Das ist das „Weinlädele“.
Das „Weinlädele“ befindet sich in einem historischen Fachwerkhaus an der Einmündung der Ritterstraße in die Mainzer Gasse. Das Gebäude mit dder Anschrift „Schlosstreppe 1“ gehört zu den ältesten Fachwerkhäusern Marburgs. Vermutlich im Jahr 1418 wurde das fünfgeschossige Haus in Ständerbauweise errichtet.
Die vordere Fassade zum Marktplatz hin wurde 1578 fertig gestellt. Die noch gut erhaltene Haustür stammt aus der Zeit um 1750. Um 1970 wurde das – seit 1800 verputzte – Fachwerk wieder freigelegt und eine großzügige Sanierung durchgeführt.
Seit 1980 betreibt Roland Leibl in diesem architektonischen Juwel das „Weinlädele“. Im Laufe der Jahre hat sich die Weinstube auch zu einem Restaurant entwickelt. Das Angebot regionaler Speisen ist jedoch begrenzt.
Die Auswahl der Weine ist dafür umso reichhaltiger. Der gelernte Winzer Leibl kennt seine Lieferanten in der Regel alle persönlich. In Geisenheim hat Leibl in den 70er Jahren Weinbau studiert.
Mit meiner verstorbenen Ehefrau Erdmuthe Sturz saß ich vor allem in den frühen 90er Jahren öfters in oder vor dem „Weinlädele“. Von der Terrasse vor dem Lokal aus konnte man links die –
später mit einem Glaskubus geschützte – Ausgrabug der mittelalterlichen Synagoge sehen, die Mainzer Gasse hinunterblicken auf den Marktplatz und das Renaissance-Rathaus oder rechts die Ritterstraße und die Lutherische Pfarrkirche sehen. Bei warmer Witterung genossen wir dort einen Rheingauer Rießling und aßen dazu Spätzle, Flammkuchen oder Zwiebelkuchen.
Bier führte das „Weinlädele“ nicht. Als Biertrinker war es deshalb nicht meine erste gastronomische Wahl. Auch das eingeschränkte Sortiment auf der Speisekarte lockte mich nicht gerade dorthin.
Wenn ich aber im „Weinlädele“ war, dann genoss ich die wunderbare Atmosphäre in dem historischen Gebäude. Links führte eine Holztreppe in den ersten Stock hinauf, wo man auf einer Galerie sitzen und auf die Gäste im Erdgeschoss hinabblicken konnte. Hintendurch gelangte man in einen separaten Raum, wo ich gelegentlich auch an Pressekonferenzen teilgenommen habe.
Wenn ich mit Edmuthe in den Rheingau reiste, trafen wir dort öfter auf Winzer, die den Wirt des „Weinlädele“ und sein Lokal kannten. Einige hatten gemeinsam mit ihm studiert. Einige gehörten auch zu seinen Lieferanten, wie sie uns berichteten.
Mit besonderen Gästen gingen wir gerne ins „Weinlädele“. Dort genossen wir die gepflegte Gastronomie der Weinliebhaberinnen und Weinliebhaber. Nicht „Saufen“ lautet dabei die Devise, sondern „gemütlich genießen“.
Als ich Mitte September 2022 zum letzten Mal am „Weinlädele“ vorüberging, stand draußen vor der Terrasse ein Schild mit der Aufschrift „Wegen Personalmangel geschlossen“. Im Internet bietet Leibl weiterhin einen Online-Shop für Weine an.
Als Freund einer reichen Restaurantkultur wie auch als Fan alter Fachwerkgebäude kann ich nur hoffen, dass das wunderbare „Weinlädele“ allein schon wegen seiner Einmaligkeit in der Marburger Gastronomie-Szene noch viele Jahrzehnte überdauern wird. Um dieses Kleinod der Marburger Weinkultur wäre es anderenfalls sehr schade. Für mich gehört diese stilvolle Weinstube jedenfalls seit vielen Jahren bereits unzweifelhaft zu den legendären Lokalen in Marburg.
* Franz-Josef Hanke