Immer sofort: Gehirn erkennt bekannte Stimmen in 150 Millisekunden

Das Gehirn erkennt Prominente blitzschnell an der Stimme. Das ist der akustische „Merkel-Effekt“.
Das sprachverarbeitende Gehirn identifiziert berühmte Stimmen, bevor man sich dessen bewusst wird Die Stimme einer prominenten Sprecherin wie Angela Merkel ruft charakteristische Hirnreaktionen hervor, die bereits in den ersten 150 Millisekunden vor sich gehen, noch ehe man die Stimme bewusst zuordnet. Das berichten Mitglieder des Marburger Graduiertenkollegs „Dynamik und Stabilität sprachlicher Repräsentationen“ im Fachblatt „Neuropsychologia“.
Das Team studierte mittels Elektroenzephalografie (EEG) die Hirnaktivität beim Hören einer bekannten Stimme. „enn wir miteinander reden, kommt es nicht nur darauf an, was gesagt wird, sondern auch, von wem“, erklärte der Marburger Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Mathias Scharinger, der die Forschungsarbeiten leitete. „Das Erkennen von menschlichen Sprecherinnen und Sprechern anhand ihrer Stimmen ist eine bemerkenswerte Fähigkeit.“
Während technische Spracherkennungssysteme scheitern, wenn sie Stimmen mehrerer Sprecher oder Sprecherinnen zuordnen sollen, filtert das menschliche Gehirn problemlos bekannte Stimmen aus Hintergrundgesprächen heraus. „Wie die Verarbeitung sprecherbezogener Stimmmerkmale zeitlich abläuft, war bislang weitgehend unbekannt“, erläuterte die federführende Mitverfasserin Paula Rinke, die am neuen linguistischen Graduiertenkolleg der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) in Marburg eine Doktorarbeit anfertigt.
Das Graduiertenkolleg 2700 der DFG an der Philipps-Universität startete erst vor einem guten halben Jahr. Die Einrichtung beschäftigt sich damit, wie dauerhaft und wie wandelbar die mentalen Repräsentationen von sprachlichen Einheiten wie Lauten oder Wörtern sind. Das Graduiertenkolleg bringt neuartige Herangehensweisen aus verschiedenen Gebieten der Linguistik zusammen, um Promovierenden der Germanistik, Linguistik, Psychologie, Biologie und Neurowissenschaften ein einzigartiges Forschungsumfeld zu bieten.
Das Team konfrontierte 21 Versuchspersonen mit Sprachaufnahmen der deutschen Altkanzlerin Merkel sowie zweier völlig unbekannter Sprecherinnen. „Wir entschieden uns für die Stimme von Angela Merkel, weil sie lange in den Medien präsent war und daher vielen Deutschen bekannt ist“, erklärte Rinke. Die akustischen Eigenschaften von Merkels Stimme bildeten auch die Grundlage, um die unbekannten Stimmen auszuwählen.
Das Team wählte auf dieser Basis zwei Sprecherinnen aus, deren Alter in etwa dem von Merkel entspricht und zwischen 60 und 65 Jahren liegt. Um die Hirnaktivitäten der Probandinnen und Probanden zu ermitteln, nutzte das Team die Technik der Hirnstrommessung oder Elektroenzephalografie (EEG). Mit ihrer Hilfe lässt sich auch die unbewusste Wahrnehmung von Sinnesreizen feststellen.
Das EEG misst Hirnreaktionen, die Sinnesreize anzeigen, ehe sie ins Bewusstsein dringen. Kommt es zu unvorhergesehenen Reizen oder Veränderungen in der Umwelt, so führt dies zu einer anderen Reaktion als auf Standardreize. Das EEG weist dann ein charakteristisches Muster auf.
Bei diesem verstärkten Ausschlag spricht die Neurowissenschaft von „Mismatch-Negativität“ (MMN). Diese Hirnreaktion erfolgt automatisch. Sie erfordert also keine Aufmerksamkeit für den Reiz.
Worin die neuronale Basis der MMN besteht, ist nach wie vor umstritten. Manchmal folgt auf die MMN noch eine positive Auslenkung. Diese Komponente „P3a“ gilt als Anzeichen für einen unwillkürlichen Wechsel der Aufmerksamkeit.
Die kurzen Wortreize von Merkel und den unbekannten Sprecherinnen lösten Hirnreaktionen aus, die sich eindeutig unterscheiden lassen. „Die Stimme der Altkanzlerin führt zu einer kleineren und früheren Mismatch-Negativität als die unbekannten Stimmen“, berichtete Rinke.
Auch die „P3a-Komponente“ weist Unterschiede auf: Sie erfolgt bei dem bekannten Reiz später und ist größer als bei den unvertrauten Stimmen.
„Die Verarbeitung erfolgt innerhalb der ersten 150 Millisekunden des akustischen Signals“, ergänzte Studienleiter Scharinger. Er schlussfolgerte aus den Befunden: „Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Verarbeitung einer sehr bekannten Stimme von einer vorbewussten Verarbeitung abhängt.“
Der Sprachwissenschaftler Scharinger lehrt Phonetik an der Philipps-Universität und amtiert als Sprecher des Graduiertenkollegs 2700 „Dynamik und Stabilität sprachlicher Repräsentationen“. Er gehört dem „Center for Mind, Brain and Behavior“ (CMBB) der Philipps-Universität und der Justus-Liebig-Universität Gießen im Forschungscampus Mittelhessen an.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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