Vor 40 Jahren gab es in Marburg nur zwei Kneipen mit Nachtkonzession. Eine davon war der „Alt-Keller“.
Der „Alt-Keller“ befand sich direkt an der Kreuzung vor der Elisabethkirche. In diesem Haus residiert heute der „Elisabeth-Braukeller“. Zwischendurch trug die Kneipe auch einmal den Namen „Alt-Berlin“.
Mit dem einstigen „Alt-Keller“ ist der heutige „Elisabeth-Braukeller“ jedoch kaum zu vergleichen. Dort, wo sich heute die Gaststube befindet, wurden damals Bücher verkauft. Der „Alt-Keller“ befand sich in dem Kellergewölbe unter der Buchhandlung.
Während man heute über eine Treppe von der Ketzerbach in die Gaststube steigt und dann dort drinnen in das Gewölbe hinabsteigen kann, führte früher eine Treppe direkt von der Straße aus hinab. Die Tür zur Ketzerbach hin hatte die Form eines großen Weinfasses. Unten konnte man sich nach rechts in die Gaststube wenden oder gegenüber der Stiege am Tresen Platz nehmen.
Kam man vor 23 Uhr abends in den „Alt-Keller“, herrschte dort eher eine ruhige Gelassenheit vor. Erst nach Mitternacht füllte sich der Gastraum allmählich. Nach 1 Uhr wurde es dann richtig voll.
Alle Kneipen in der Oberstadt mussten um 1 Uhr schließen. Die „Polizeistunde“ wurde konsequent durchgesetzt. Hielt sich ein Wirt nicht daran, riskierte er seine Schankkonzession.
Nur der „Alt-Keller“ an der Elisabethkirche und eine weitere Kneipe an der Frankfurter Straße besaßen eine „Nachtkonzession“. Sie durften bis 3 Uhr Alkohol und andere Getränke ausschenken. Dank dieses Privilegs versammelte sich Marburgs „Intelligenz“ ab 1 Uhr im „Alt-Keller“.
Aus den verschiedensten Kneipen der Oberstadt strömten die Zecher nach Mitternacht den Steinweg hinab. Im „Alt-Keller“ wurde weiter getrunken und mitunter auch weiter geturtelt. Während dort normalerweise bekannte Popsongs über die Anlage vorgespielt wurden, wurde einmal auch klassische Oper und Operette gesungen.
An einem der beiden großen runden Tische gleich rechts neben der Treppe saß eine fröhliche Runde von vielleicht acht Leuten. Irgendwann stand einer auf und begann, Opernarien zu schmettern. Vor allem aber brachte er mit professioneller Ausdruckskraft auch bekannte Operettenschlager zu Gehör.
Mit einer ungefähr gleich großen Gruppe saß ich am Nebentisch. Erst erstaunt und dann gegeistert, horchte ich auf den Gesang des Tenors. „Ja, ja, der Chianti-Wein“, sang er oder das Lied vom Schweinehirten.
Die gesamte Kneipe applaudierte und forderte Zugaben. Acht oder neun Lieder trug der Tenor gekonnt vor, bevor er sich wieder hinsetzte und zu seinem Bierglas griff. Wer dieser Mann gewesen ist, weiß ich bis heute nicht, wohl aber, dass er ein absolut professioneller Könner war.
Über Fähigkeiten ganz anderer Art verfügte Jochen. Der blinde Rechtsanwalt war Stammgast im „Alt-Keller“. Dort oder in unmittelbarer Umgebung lernte er auf seine ganz eigene Weise junge Frauen kennen, die ihn um 3 Uhr nach Hause begleiteten und gelegentlich dann dort auch über Nacht blieben.
Gelungen ist ihm das, indem er – vermutlich absichtlich, vielleicht aber auch im Suff – seinen weißen Langstock in der Kneipe zurückließ. Draußen bat er dann eine junge Frau, ihn nach Hause zu bringen, da er seinen Taststock verloren habe. Diese Masche zog nahezu immer.
Der krönende Abschluss im Bett war dann allerdings Glückssache. Aber Jochen hatte häufig Glück. Der Wirt des „Alt-Kellers“ hingegen hatte schon elf Stöcke von Jochen hinter der Theke liegen, die der Besitzer jedoch nie abholte.
An seinen Kommilitonen Jochen erinnerte sich auch Reporter-Legende Manni Breuckmann bei einem Vortrag am 19. September 2014 im Ristorante „Colosseo“: „Man sagt ja, bei Blinden bildet sich anstelle des Sehsinns ein anderes Organ besser aus. Bei Jochen war das unzweifelhaft die Leber.“
Angesichts der Vielzahl der – im „Alt-Keller“ hinterlassenen – Blindenstöcke ist Jochen irgendwann auf den Hund gekommen. Mit seinem Führhund ist er nach Südhessen gezogen, hat geheiratet und Kinder bekommen. Ebenso wie er lebt auch der „Alt-Keller“ heute nur noch in meinen Erinnerungen an legendäre Lokale in Marburg.
* Franz-Josef Hanke
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