Das „Frustica“: Eine einstige Marburger Kneipe mit Musikprogramm

Meinen ersten Abend in Marburg habe ich bis heute nicht vergessen. Damals ging ich mit meinen neuen Nachbarn ins „Frustica“.
Es war der letzte Ttag der hessischen Sommerferien im Jahr 1977. Ein Bekannter meines Vaters brachte ihn und mich mit dem Auto nach Marburg. Gemeinsam gingen wir in das Haus „Liebigstraße 11“ im Südviertel.
Dort sollte ich nun für ein Jahr wohnen. An der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA) sollte ich eine „Blindentechnische Grundausbildung“ absolvieren. Wegen meiner fortschreitenden Erblindung musste ich die tastbare Brailleschrift und das Blind-Maschineschreiben erlernen.
Wohnen sollte ich in der BliStA-Außenwohngruppe „Liebigstraße“. In dem Haus der Gründerjahre mit großem Vorgarten lebte ein Dutzend blinde und hochgradig sehbehinderte Schülerinnen und Schüler der Carl-Strehl-Schule (CSS). Sie alle waren zwischen 18 und 23 Jahre alt.
Außerdem wohnte im Hochparterre neben dem großen Wohnzimmer, das als Speisesaal diente, die 86-jährige Heimleiterin Hedwig Zühlke. Diese alte Dame war die jüngste Bewohnerin des Hauses, was ihre geistige Offenheit betrifft. Körperlich baute sie allmählich ab, weswegen sie im Herbst erstmals nicht selber auf die Bäume im Garten kletterte, um Äpfel und Pflaumen zu pflücken.
Nachdem ich mich ihr und meinen neuen Mitbewohnern vorgestellt und mein Vater mit seinem Bekannten den Heimweg angetreten hatte, schlug mein neuer Nachbar Walter vor, am Abend gemeinsam in die Kneipe zu gehen. Zusammen mit meinem gleichaltriggen Kurskameraden Jürgen, der mit mir den sogenannten „V-Kurs“ der BliStA besuchte, gingen auch noch mehrere andere Hausbewohner ins „Frustica“. Dort sollte es an diesem Abend Lifemusik geben.
Das „Frustica“ war eine „Tropfsteinhöhle, wie sie unter Marburgs Kneipen damals mehrfach zu finden war. Vornean war eine Bar mit Tresen und Barhockern, bevor man hinten einige Stufen hinabstieg in den gemütlichen Keller. An dessen rückwärtiger Wand hingen einige Verkehrsschilder und Wegweiser, von denen eine Tafel das Ortsschild von „Cappel“ war.
Das „Frustica“ befand sich genau gegenüber der Einmündung der Straße „Am Plan“ in die Barfüßerstraße und das Barfüßertor. Später wurde das Haus umgebaut, wonach dort ein China-restaurant und dann die „Blaue Säule“ residierte. Heute befindet sich genau dort die „kostBar“.
1977 jedoch war dort kein Speiselokal, sondern eine Studentenkneipe. Ein junger Mann spielte dort Popp- und folkmusik auf der Gitarre und sang dazu „Jeannie, come lately“ Die Textzeile „I met You a couple of days ago“ übersetzte er launig mit „Ich traf Dich in Cappel“ und drehte sich dabei um zu dem Ortsschild in seinem Rücken.
Bei seinen Songs tranken wir Bier und lernten einander kennen Am wichtigsten für mich war, dass ich im Alltag allmählich auch andere Blinde kennenlernte, die ein durchaus fröhliches Leben führten. Ins „Frustica“ gingen wir alle danach noch öfter.
Wegen des Umbaus des Gebäudes zog der Wirt mit seiner Kneipe später in die Untergasse. Dort nannte er seine Kneipe dann „Rustica“. Aber das war dann nicht mehr das Gleiche wie zuvor am Plan.

* Franz-Josef Hanke