Ostern in Marburg: Vielleicht kann Sokrates helfen

Seit gut zwei Jahren beherrscht das Coronavirus das Leben in Marburg. Seit mehr als einem Monat ist auch hier der grausame Krieg ins Alltagsleben mit eingezogen.
Gepflegte Gewissheiten geraten ins Wanken. Die heitere Unbekümmertheit der Jugend wirkt manchmal beinahe wie Zynismus. Die Warnungen der Alten wiederum werden wie Panikmache weggeschoben.
Verzweifelte Debatten über Waffenlieferungen an die Ukraine stürzen viele in Gewissensnöte: Verbreitet man den Tod, um bedrohten Mitmenschen zu helfen, oder überlässt man sie ihrem Schicksal, um sich die Hände nicht schmutzig zu machen? Zieht hektische Aufrüstung im Westen nicht wieder weitere Aufrüstung anderswo nach sich?
War die große Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas nicht von Anfang an ein Fehler? War der freundliche Umgang mit dem russischen Diktator Vladimir Putin falsch? Hat die Diplomatie endgültig ausgedient?
„Hinterher sind immer alle klüger“, weiß der Volksmund schon lange. Weise ist laut Cicero derjenige, der seine Pläne bereits vor ihrer Umsetzung bis zu ihrem Ende hin durchdenkt. Aber haben wir genügend Zeit, Alles gründlich zu durchdenken?
Gefragt sind jetzt Philosophinnen und Philosophen. Gemeint damit sind allerdings nicht jene selbstgerechten Talkshow-Kasper, die zu Allem und Jedem etwas sagen, obwohl sie dabei letztlich nur Plattitüden absondern, sondern jene, die tiefer nachdenken und tiefer empfinden. Gefragt ist aber vor Allem das Mitgefühl mit all denen, die durch die langanhaltende Pandemie, durch Flucht und Vertreibung, durch Furcht vor dem Krieg und Angst um den Frieden in ihrem Innersten erschüttert worden sind.
Gefragt ist jetzt praktische Unterstützung für alle, die sie benötigen. Nicht Reden ist wichtig jetzt, sondern Handeln. Wichtig ist vor Allem aber auch Respekt gegenüber all denjenigen, die ihre moralischen Dilemmata bei der Debatte über Waffenlieferungen an die Ukraine nur schwer ertragen und noch schwerer auflösen können.
Nun kann sich Marburg in seiner Selbsteinschätzung als „Soziales Herz Deutschlands“ beweisen. Hilfe für Geflüchtete ist nun ebenso angesagt wie ein respektvoller Umgang mit Andersdenkenden. „Pazifist“ darf ebensowenig ein Schimpfwort werden wie „Waffenlieferungsbefürworter“.
Denken und auch Zweifeln ist nun umso wichtiger, wo die meisten nur noch wenig Zeit dafür haben.Eine wahre Philosophin ist in zerstörerischen Zeiten wie diesen nämlich jemand, die deutlich erklärt, was im antiken Athen bereits Sokrates wusste: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

* Franz-Josef Hanke

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