Rund 3.000 Menschen sind am Samstag (12. Oktober) in Marburg auf die Straße gegangen. Unter dem Motto „wirstehenzusammen“ demonstrierten sie für Solidarität mit der Jüdischen Gemeinde und gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus, Hetze, Gewalt und Ausgrenzung
Dieses eindrucksvolle Zeichen von Demokratie und Solidarität ist die „die gute Nachricht der Woche“. Zu dem Trauermarsch anlässlich des Anschlags in Halle hatte der Magistrat der Stadt Marburg am Mittwoch (9. Oktober) aufgerufen.
„Dieser Anschlag ist ein Anschlag auf uns alle“, erklärte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. „Euer Schmerz ist unser Schmerz, Eure Angst ist unsere Angst, Eure Verzweiflung ist unsere Verzweiflung. Denn dieser Angriff galt nicht nur der jüdischen Gemeinde in Halle, er galt uns allen und er betrifft uns alle.“
Bei der Kundgebung an der mittelalterlichen Synagoge am oberen Markt betonte Spies: „“Wir sind erschüttert und verletzt. Unser Mitgefühl gilt den Opfern und allen, die bedroht sind oder sich bedroht fühlen. Sie sollen, Ihr sollt alle wissen: Wir stehen immer an Eurer Seite.“
Losgegangen war die Demonstration am neuen Gotteshaus der Jüdischen Gemeinde Marburg im Südviertel. Dort versammelten sich rund 1.200 Menschen zu Beginn hinter dem Transparent „#wirstehenzusammen“. Diese Formel wurde binnen weniger Stunden nach dem rechtsextremistischen Anschlag in Halle zum Motto der millionenfachen Solidaritätsbekundungen.
Angeführt wurde der Demonstrationszug von Oberbürgermeister Spies, Stadtverordnetenvorsteherin Marianne Wölk, Monika Bunk vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde Marburg, Propst Helmut Wöllenstein, Dr. Hamdi Elfarra von der Islamischen Gemeinde Marburg sowie den beiden Marburger Landtagsabgeordneten Dirk Bamberger und Jan Schalauske. Auf dem Weg von der neuen Synagoge an der Liebigstraße vorbei am Garten des Gedenkens bis zum Zentrum des Marburger jüdischen Lebens im Mittelalter schlossen sich immer mehr Demonstrierende an. So nahmen insgesamt rund 3.000 Menschen am Zug teil.
Am oberen Markt und vor dem Glaskubus der alten Synagoge drängten sich bei der Kundgebung noch rund 2.000 Teilnehmende, um die Redebeiträge von Spies, Wölk, Probst Wöllenstein, Elfarra und schließlich Bunk zu hören. Begleitet wurden alle von zustimmendem Applaus, der immer wieder aufbrandete.
„Wer Hass und Hetze predigt, der trägt Mitverantwortung“, stellten Spies und die anderen Redenden klar. Wer Hass säe, wer Antisemitismus, Rassismus, Menschenfeindlichkeit propagiere, trage Mitschuld, erklärte der Oberbürgermeister. Terroristen entstünden nicht aus dem Nichts; sie seien das Produkt eines Klimas von Hass und Hetze und Menschenfeindlichkeit.
Auch der Täter in Halle war kein einzelner Täter. Er sei offensichtlich Teil eines wachsenden Netzes von Rechtsradikalen, eines völkischen Diskurses, der inzwischen von manchem Politiker rechtsradikaler Parteien in die Talkshows getragen werde und der sich über Internet längst transnational organisiere, führte Spies aus.
„“Diese Tat war kein Alarmzeichen, sondern der Ernstfall.“ Darin war sich der Oberbürgermeister mit allen weiteren Rednerinnen und Rednern einig.
Dieser terroristische Akt müsse nicht „alarmieren, sondern uns zum konsequenten Handeln bringen gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus, gegen jede Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit, mutig, jeden „, sagte Spies unter lautem Beifall. „Es darf keinen Zweifel geben: Wer Menschen nach Kategorien abwertet, seien sie rassistisch, seien sie frauenfeindlich, seien sie homophob oder antisemitisch, wer extremistisches Gedankengut verbreitet, der stellt sich außerhalb unserer demokratischen Gesellschaft.“
Eben diese freie, offen und plurale Gesellschaft zu zerstören, sei das Ziel der Rechtsextremisten und Antisemiten, führte Stadtverordnetenvorsteherin Wölk aus. Sie prangerte die „kalkulierte Verrohung der politischen Debatte durch Rechtspopulisten“ an und forderte eindringlich eine konsequente Verfolgung und Sanktionierung von Hassbeiträgen sowie einen funktionierenden Rechtsstaat, der über jeden Zweifel erhaben sei, und eine angewandte Kultur des Widerspruchs gegen Menschenfeindlichkeit.
„Lasst uns die Demokratie achten, leben und lernen und lasst uns Stärke zeigen im Kampf gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus“, rief Wölk den Anwesenden zu. Sie jedenfalls sei stolz auf diese Stadt sei, die mit so vielen Menschen auf die Straße gehe.
Propst Wöllenstein trat für die Evangelische und Katholische Kirche sowie für die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit (CJZ) ans Mikrofon „aber noch mehr als eine Stimme der Zivilgesellschaft, weil es heute bei aller Vielstimmigkeit viel wichtiger ist, dass wir zusammenstehen“. Er schäme sich, in einem Land zu leben, von dem die größten antisemitischen Exzesse der Geschichte ausgingen und in dem es jetzt diesen „wahnsinnigen Anschlag“ gebe – „in einer Dimension, die es nach dem Naziterror so bei uns nicht gegeben hat“. Er schäme sich auch als jemand, der mit Verantwortung trage für religiöse Bildung.
„Wie kann es sein, dass ein Drittel der Jugendlichen bei Umfragen nichts vom Holocaust weiß, ein weiteres Drittel kaum etwas?“ Und wie könne die AfD sagen, sie habe mit solchen Taten wie in Halle nichts zu tun, wenn sie den Holocaust als „Vogelschiss“ in einer sonst ruhmreichen deutschen Geschichte bezeichne? „Für wie dumm halten sie uns eigentlich?“, fragte Wöllenstein unter dem Beifall der Demonstrierenden.
„Wir verurteilen jeden, der zu Hass und Spaltung aufruft“, griff Dr. Hamdi Elfarra die Empörung seiner Vorredner gegen all diejenigen auf, die öffentlich an vielen Orten Hass äußern – gegen Juden, gegen Muslime, gegen Frauen, gegen jeden, „der anders ist oder anders sein will“. Das sei in den vergangenen Jahren wieder möglich geworden „sogar wieder in unserem Parlament!“
Elfarra wandte sich direkt an die Menschenjüdischen Glaubens: „Liebe Geschwister der Jüdischen Gemeinde in Marburg und überall, wir trauern alle mit euch und um die Opfer eines Hass-Täters.“ Elfarra rief dazu auf, stattdessen zu denen zu gehören, die Menschen am Leben erhalten, die sich für Frieden und Barmherzigkeit, für eine inklusive, friedliche, solidarische, füreinander einstehende, anerkennende und freundliche Gesellschaft einsetzen.
Bunk dankte allen und berichtete von den vielfachen Solidaritätsbekundungen aus Politik, Religionsgemeinschaften und Bürgerschaft, die sie in den vergangenen Tagen erhalten hatte. Sie forderte gleichzeitig: „Lasst das keine einmalige Sache sein! Seid bitte immer aufmerksam, in eurem Alltag, in der Schule, an der Uni, im Verein, am Arbeitsplatz, auf dem Fußballplatz. Nehmt die alltäglichen Diskriminierungen, Antisemitismen und Hassworte wahr, die an eure Mitmenschen gerichtet werden“, rief sie den Menschen zu, „schweigt nicht, handelt, zeigt Gesicht!“
Rechtsradikale Hetze und persönliche Diffamierung sei keine „freie Meinungsäußerung“, stellte Bunk fest. „Judenhass ist Menschenhass. Ausländerhass ist Menschenhass.“
Bunk fuhr fort: „Aber: „Wir sind mehr. Wir Demokraten, die wir für unsere freiheitliche, liberale Gesellschaft stehen, sind mehr. Das müssen wir auch offensiv leben und im engen Schulterschluss zusammenstehen.“ Bunk versprach: „Wir werden weiterhin Gesicht zeigen und den Mund aufmachen – gemeinsam mit euch allen.“
Das bekräftigte auch Oberbürgermeister Spies: „Wir stehen in Marburg zusammen gegen Antisemitismus, gegen Rechtsextremismus, gegen jede Form von Diskriminierung und Menschenfeindlichkeit – nicht nur heute, sondern jeden Tag.“
* pm: Stadt Marburg
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