„30 ist das neue 50.“ Dieser Slogan wirbt für mehr Sicherheit und Gesundheit sowie für Tempo 30 auf Marburgs Innenstadtachse.
Entlang der Innenstadtachse von der Gisselberger Straße bis zur Deutschhausstraße liegen viele Schulen und Kitas. Um für hunderte Kinder die Wege sicherer zu machen, gilt hier künftig Tempo 30. Bei Autofahrten bringt das einen Zeitverlust von einigen Sekunden – für Anwohnende eine gefühlte Halbierung des Lärms.
Insgesamt zehn Schulen, fünf Kitas, ein Seniorenpflegeheim und 18 für den Schulweg wichtige Bushaltestellen liegen im Innenstadtbereich nahe der Hauptverkehrsstraße durch Marburgs Innenstadt. Für Hunderte von Kindern ist die Innenstadtachse daher ein zentraler Teil ihres Schulwegs – sie steigen dort aus, um die letzten Meter zu Fuß zu gehen.
Die Novelle der Straßenverkehrsordnung sieht vor, auf solchen hoch frequentierten Schulwegen eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 Stundenkilometer einzuführen, damit die Kinder und Jugendlichen sicherer unterwegs sind. Das gilt von der Gisselberger Straße ab der Einmündung „Teichwiesenweg“ über die Schwanallee und die Universitätsstraße durch die Biegenstraße bis in die Deutschhausstraße. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung ist außerdem zum Schutz der Anwohnerinnen und Anwohner vor Lärm gesetzliche Pflicht.
„Wir befolgen den rechtlichen Rahmen, um die Schulwege für unsere Kinder und Jugendlichen deutlich sicherer zu machen“, erklärte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies. „Wir warten nicht, bis es einen schwerverletzten Achtjährigen gibt, sondern setzen auf Prävention.“ Erst im vergangenen Jahr sei im Bereich Biegenstraße ein vierjähriges Kind angefahren worden – und musste nach Kenntnis der Stadt im Krankenhaus behandelt werden.
„Wir wollen so etwas möglichst verhindern. Oder zumindest die Gefahr minimieren“, erläuterte Spies. „Wir müssen den täglichen Weg der Kinder sicherer machen“, forderte auch Bernadette Baumgarten. Sie leitet die Kita der katholischen Kirchengemeinde Sank Peter und Paul an der Biegenstraße.
„Es ist auch eine Kulturmeile“, ergänzte Jessica Petraccaro-Goertsches vom Leitungsteam des KA.RE. „Hier sind bis in den Abend hinein junge Menschen und Erwachsene unterwegs.“ Sie und weitere Kolleg*innen hatten der Stadt nach dem Unfall des Vierjährigen geschrieben und die Prüfung von Tempo 30 erbeten ebenso wie unter anderem die DRK Schwesternschaft, Anwohnende und Schüler*innen.
Aktuelle Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung zeigen, dass die Zahl der Schulwegunfälle im ersten Halbjahr 2025 im Vergleich zum Vorjahr wieder um 5 Prozent gestiegen ist auf 42.303 in sechs Monaten. Insgesamt haben damit jeden Tag in Deutschland 445 Kinder auf ihrem Schulweg einen Unfall. Und: Bei Tempo 50 ist der Aufprall bei einem Unfall drei Mal so heftig wie bei Tempo 30. Die Überlebenswahrscheinlichkeit liegt bei Tempo 30 bei 90 Prozent – bei Tempo 50 nur bei 50 Prozent.
„Wenn bei geringer Geschwindigkeit etwas passieren sollte, dann sind die Folgen deutlich geringer“, stellte der stellvertretende Vorsitzende Manuel Gaul von der DRK Schwesternschaft Marburg klar, die im Bereich der Deutschhausstraße ein Pflegeheim und eine Betreuung für Kinder unter drei Jahren betreibt. „Die Kinder sind viel draußen unterwegs; und es ist eine echte Erleichterung, wenn der Autoverkehr künftig noch aufmerksamer unterwegs ist“, ergänzte Oberin Christiane Kempf.
Die Einschränkungen für den Autoverkehr durch die Einführung von Tempo 30 hingegen sind minimal. Auf der Innenstadtstrecke von 3,1 Kilometern bedeutet die Geschwindigkeitsbegrenzung einen Zeitverlust von rechnerisch 149 Sekunden – tatsächlich ist der Zeitverlust aber wesentlich geringer, da wegen des hohen Verkehrsaufkommens ohnehin selten schneller als 30 Stundenkilometer gefahren werden kann. Die Stadtbusse der Stadtwerke Marburg haben eine durchschnittliche Reisegeschwindigkeit von 15 Stundenkilometern, inklusive der Stopps an den Haltestellen.
Tempo 30 hat einen weiteren Vorteil: Die Anwohner*innen werden deutlich entlastet. Die Reduzierung der Geschwindigkeit macht eine Reduzierung des Lärms um zwei bis drei Dezibel aus. Das reduziert die akustische Leistung um die Hälfte und wird vom Menschen als deutlich leiser wahrgenommen.
„Hier sind wir auch rechtlich verpflichtet zu handeln, um die Gesundheit unserer Bürger*innen zu schützen“, erklärte Oberbürgermeister Spies. „Lärmmessungen zeigen, dass an einigen Stellen entlang der Innenstadtachse die Geräusche durch den Verkehr über gesetzlichen Grenzwerten liegen. Hier sind wir verpflichtet, eine Geschwindigkeitsreduzierung anzuordnen.“
Die Berechnungen des Lärms auf der Innenstadtachse sind von einem externen Fachbüro durchgeführt worden. Das Ergebnis war eindeutig: die vom Gesetzgeber als zumutbar geltende Belastung durch Verkehrslärm ist zum Teil tagsüber – insbesondere aber in den Nachtstunden – für die Anwohner*innen entlang des Streckenzuges deutlich zu hoch. Besonders stark vom Lärm betroffen sind Streckenabschnitte der Biegenstraße, der Bereich um den Rudolphsplatz, große Teile der Universitätsstraße bis hin zum Wilhelmsplatz und Teile der Schwanallee. Das ist der Grund, warum Tempo 30 nicht nur tagsüber zu den Schulzeiten gelten muss – sondern insbesondere nachts nun verpflichtend eingeführt werden muss.
Um den Autoverkehr auf die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit aufmerksam zu machen, installiert die Stadt entlang der Strecke mehrere Dialogdisplays, die mit einem Smiley anzeigen, ob man sich an die Geschwindigkeitsvorgabe hält. Darüber hinaus wird die Stadtpolizei auch in diesem Bereich regelmäßig Verkehrskontrollen durchführen – wie auch auf anderen Schulwegen und vor Schulen und Kitas.
Die Unfallstatistik für Marburg zeigt von 2022 bis 2024 im Bereich Gisselberger Straße bis Wilhelmsplatz 65 Unfälle auf, darunter 5 schwerverletzte Personen – die meisten Unfälle passierten zwischen 7 und 8 Uhr, zwischen 13 und 14 Uhr, sowie zwischen 15 und 17 Uhr und 18 und 19 Uhr.
Von der Universitätsstraße bis zum Rudolphsplatz gab es in diesem Zeitraum 54 Unfälle mit einer schwerverletzten Person und 23 Leichtverletzten. Insgesamt 16 Prozent der Unfälle passierten zwischen 7 und 10 Uhr, 47 Prozent zwischen 12 und 16 Uhr.
Von Pilgrimstein bis Deutschhausstraße gab es 47 Unfälle mit einer schwerverletzten Person, nicht angepasste Geschwindigkeit war nach ungenügendem Sicherheitsabstand und fehlerhaftem Fahrstreifenwechsel die häufigste Ursache. Hier geschahen 24 Prozent aller Unfälle zwischen 20 und 24 Uhr.
Unter anderem in der Gisselberger Straße queren viele Schülerinnen und Schüler die Straße – wenn sie vom Südbahnhof kommen oder mit den Überland-Bussen. Hinsichtlich der Schulwegsicherheit ist hier und auch an den folgenden hochfrequenten Übergangsbereichen auf der Innenstadtachse daher gemäß Paragraph 45 Absatz 1 und Absatz 9 Nr. 6 StVO die zulässige Höchstgeschwindigkeit tagsüber aus beiden Fahrtrichtungen auf 30 Stundenkilometer zu beschränken. Zudem werden gerade in den Nachtstunden die Immissionsgrenzwerte gemäß der Verkehrslärmschutzverordnung – 16. BImSchV überschritten. Das bedeutete, dass zum Schutz der Anwohnerschaft abends und nachts Tempo 30 erlassen werden muss.
Die gleichen rechtlichen Vorgaben gelten auch auf der weiteren Innenstadtachse bis in die Deutschhausstraße. In der Schwanallee etwa liegt direkt die inklusive Maria-von-Bethanien-Schule – hier sind aber auch besonders von Schülerinnen und Schüler des Schulzentrums stark frequentierte Bushaltestellen. Sie gelten ebenfalls gemäß novellierter Straßenverkehrsordnung als schützenswerte Bereiche. An der Universitätsstraße liegen die Kita Philippshaus sowie die Schulwege zur Emil-von-Behring-Schule und zur Otto-Ubbelohde-Schule. Im weiteren Verlauf des Straßenzugs mit dem Rudolphsplatz und der Biegenstraße bis in die Deutschhausstraße folgen unter anderem die Sophie-von-Brabant-Schule und die Martin-Luther-Schule sowie der Kindergarten von St. Peter und Paul und das Senioren- und Pflegeheim „Haus am Alten Botanischen Garten“.
Es gibt zahlreiche Wünsche und Forderungen aus der Bevölkerung, von Ortsbeiräten und Anwohnenden sowie Eltern nach weiteren Geschwindigkeitsbegrenzungen in der Stadt und ihren Außenstadtteilen –
insbesondere auch dort, wo Kinder morgens auf dem Weg zum Schulbus Hauptverkehrsstraßen queren müssen. Dadurch liegen bei der Stadt weitere rund 1.000 Prüfpunkte vor. Stück für Stück wird die Stadt sowohl die Schulwegsicherheit als auch den Lärm ebenfalls daraufhin prüfen, ob aus rechtlicher Sicht Tempo 30 eingeführt werden kann beziehungsweise muss.
* pm: Stadt Marburg
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