„Liebe alle!“ Geradezu viral verbreitet sich diese anbiedernde Anrede in jüngster Zeit in Nachrichten an bestimmte Gruppen. Wenn ich das lese, dann bekomme ich ein heftiges Bauchgrummeln.
„Alle“ ist ein Indefinitpronomen. Nach den Regeln der deutschen Grammatik steht es in der Regel vor einem Substantiv. Dann spricht es „alle Leute“ oder „alle anderen“ an.
Allerdings kann „alle“ auch als Nomenersatz stehen. Angesprochen sind dann eben „alle“. Selbst mit einem Adjektiv versehen werden kann „alle“ allerdings nach den Regeln der deutschen Grammatik nicht.
„Liebe alle“ ist grammatisch inkorrekt. Doch das kümmert anscheinend kaum jemanden. Mitgemacht bei der Unsitte, die Anrede „liebe alle“ zu verbreiten, haben in jüngster Zeit fast alle.
Ohnehin scheinen die Regeln der deutschen Grammatik inzwischen kaum jemanden mehr zu kümmern. Die gute alte Sprache von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller und Heinrich Heine und Annette von Droste-Hülshoff wird verhunzt und verkürzt, dasss man sie kaum noch wiedererkennt. Selbst elementare Regeln, die bestimmten Aussagen eine eindeutige Bedeutung verleihen und sie von anderen unterscheiden, sind vielen gleich, auch wenn sie dadurch nicht mehr das selbe vermitteln wie bei korrekter Einhaltung der Regeln.
Man muss kein Nationalist oder Chauvinist und auch kein Korinthenkacker sein, um die Regeln der deutschen Grammatik zu respektieren. Ihr Sinn liegt darin, die Verständigung mit eben dieser Sprache möglichst genau und eindeutig zu gestalten und so unnötige Missverständnisse zu vermeiden. Aus Unwissenheit oder Faulheit sowie einer falsch verstandenen Opposition gegen jene Regeln greift jedoch eine schlampige Sprache um sich, die Sätze oft dermaßen stark verkürzt, dass sie nicht mehr verständlich sind.
„Liebe alle“ könnte demnach eine – im Telegrammstil verkürzte – Aussage des einstigen StaSi-Ministers Erich Mielke widergeben. Als er die Deutsche Demokratische Republik (DDR) zusammenbrechen sah, da behauptete er in seinem sächselnden Tonfall „Ich liebe Euch doch alle!“ Wenn ich „liebe alle“ lese, dann denke ich an diese lügnerische Behauptung und kann das Versprechen des einleitenden Worts „Liebe“ nicht mehr ernstnehmen.
Als Indefinitpronomen wendet sich „alle“ an alle in einer unbestimmten Gruppe, die dann jedoch in ihrer Gesamtheit angesprochen wird. Eine solche Gruppe mit dem Wort „Liebe“ zu würdigen, ist sicherlich sehr gewagt. „Liebe Leute“ würdigt die angesprochene Gruppe zwar in ihrer Gesamtheit, verspricht aber nicht ausdrücklich jedr und jedem in dieser Gruppe die gleiche Zuwendung.
Wer indes alle Angesprochenen ausdrücklich seiner Liebe aussetzt, der schreibt damit einen möglicherweise ungedeckten Scheck uneinlösbarer Zuwendungsversprechen aus. Die typische Unverbindlichkeit vieler Zeitgenossinnen und -genossen lässt mich jedoch an der Ehrlichkeit solcher Aussagen zweifeln Mich mit „liebe alle“ zu begrüßen, wirkt deshalb eher beleidigend als respektvoll.
wer mir wirklichh zugetan ist, der spricht mich entweder direkt an oder schreibt in Gruppenmails nur einfach „Hallo“ oder „Hallo zusammen“. Wer es nötig hat, agleich zu Beginn einer Nachricht alle Lesenden seiner Liebe zu versichern, der kommt mir wie ein plumper Anbiederer vor. Für mich ist das eine Form von Verbalprostitution mit einer unhaltbaren Verheißung.
Ich liebe die Sprache, die mich von Kindheit an geprägt hat. Andere Sprachen schätze ich auch sehr, weil auch sie ihre eigene Eleganz besitzen. Deutsch ag etwas sperriger sein als das melodische Französich und Italienisch sowie etwas komplizierter als Englisch, aber für mich ist es eine lebendige und vielfältig bunte Sprache.
Auch wenn Mark Twain in seinem Essay „The awful German Language“ Deutsch ironisch unter die „Toten Sprachen“ einordnete, ist meine Muttersprache quietschlebendig. Darum vielleicht muss sie auch die eine oder andere Verhunzung ertragen, weil Sprache niemals stillstehen darf. Wer morgens im Stadtbus durch Marburg fährt und den Teenagern zuhört, der wünscht sich jedoch, dass auch sie einmal ein richtig gutes Deutsch sprechen lernen, das auch in 50 oder 100 Jahren noch großartige Gedichte und sprachgewaltige Theaterstücke oder mitreißende Romane zu einem intellektuellen Genuss werden lässt.