Das Gesundheitsamt empfiehlt, den Impfschutz gegen „Polio“ zu überprüfen. Der Schutz gegen die „Kinderlähmung“ könne verbessert werden.
Seit 2021 wird in einem Forschungsprojekt in sieben deutschen Städten regelmäßig das Abwasser auf bestimmte Krankheitserreger untersucht. Dabei wurden an allen Test-Standorten veränderte Impf-Polio-Viren nachgewiesen. Bisher wurde aber in Deutschland kein Fall von Poliomyelitis gemeldet. Die sogenannte „Kinderlähmung“ ist die Erkrankung, die durch Polio-Viren ausgelöst werden kann.
Da die Impfquoten nicht ausreichend sind, empfiehlt das Gesundheitsamt, den Impfschutz gegen Polio zu überprüfen und bei Bedarf zu vervollständigen. Die Impfung ist sicher und bietet einen guten Schutz.
„Infektionen mit Polio-Viren können bei einem kleinen Teil der Infizierten zu einer sogenannten schlaffen Lähmung führen“, erläuterte Dr. Birgit Wollenberg. „Betroffen sind meist Kinder unter fünf Jahren, daher nennt man die Erkrankung auch Kinderlähmung.“
Wollenberg ist die Leiterin des Gesundheitsamts Marburg-Biedenkopf. „Die Lähmungen können zu dauerhaften Beeinträchtigungen oder sogar zum Tod führen, wenn beispielsweise die Atemmuskulatur betroffen ist“, warnte die Amtsärztin. „Die meisten Infizierten entwickeln jedoch nur allgemeine Symptome und erholen sich wieder. Polioviren verbreiten sich von Mensch zu Mensch.“
Gegen Kinderlähmung werde seit Jahrzehnten erfolgreich geimpft. Von dem Polio-Virus habe es drei Wildtypen gegeben, von denen bereits zwei als ausgerottet gelten. Geblieben sei der „Wildtyp 1“, der zur Zeit nur außerhalb Europas noch auftrete.
„Für die Impfungen wurde jahrzehntelang ein Schluckimpfstoff eingesetzt, der abgeschwächte Polio-Viren enthielt“, berichtete Wollenberg. „Diese Viren vermehren sich, so dass im Körper ein Immunschutz aufgebaut wird. Geimpfte scheiden dann eine Zeitlang Impfviren aus.“
In Ländern, in denen die Schluckimpfung genutzt werde, sei das sogar zu einem Teil erwünscht, weil so auch Menschen mit den abgeschwächten Impfviren in Kontakt kämen und immunisiert würden, ohne die eigentliche Schluckimpfung zu bekommen, beschreibt das Robert Koch-Institut (RKI). Wenn diese Viren jedoch länger zirkulierten, könne es zur Veränderung des Erbguts des Virus kommen. „Immer wieder wurden solche veränderten Impfviren beobachtet, die auch Lähmungen verursachten“, berichtete Wollenberg.
„Das war der Hauptgrund dafür, dass in Deutschland und vielen anderen Ländern 1998 der Schluckimpfstoff durch einen inaktivierten Impfstoff abgelöst wurde, der gespritzt wird und keine Krankheit auslösen kann.“
Seit 2021 wird in einem Forschungsprojekt in den sieben deutschen Städten München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz regelmäßig das Abwasser auf bestimmte Krankheitserreger untersucht. Dort wurden an allen Test-Standorten auch veränderte Impf-Polioviren nachgewiesen. Da die Schluckimpfung in einigen Ländern noch eingesetzt wird, sind Nachweise von Impfviren im Abwasser nicht ungewöhnlich.
Das gilt auch für Länder, die keine Schluckimpfung mehr nutzen, da Impfviren durch Reisende hineingebracht werden können. In Deutschland konnten Polio-Impfviren bereits mehrfach im Abwasser nachgewiesen werden. Dabei handelt es sich um Impfviren, die sich bereits genetisch verändert haben und sich also schon länger verbreiten.
Außerdem zeigte die genaue Untersuchung des Viren-Erbguts, dass die Viren an den verschiedenen Orten in Deutschland sehr ähnlich sind. Das bedeutet, dass es sich um ein zirkulierendes Impfvirus handelt, das bereits verbreitet ist. Unklar ist, ob das Virus bereits innerhalb von Deutschland zirkuliert oder ob die Viren ausschließlich von Menschen ausgeschieden werden, die sich außerhalb Deutschlands infiziert haben. Denkbar ist jedoch, dass Menschen hierzulande das Virus weitergeben und einzelne, ungeimpfte Personen möglicherweise auch erkranken.
„Es gibt zu viele ungeschützte Menschen“, warnte die Leiterin des Gesundheitsamts. „Je mehr ungeschützte Menschen es gibt, desto leichter ist es für das Virus, sich zu verbreiten. Deswegen ist es wichtig, auf rechtzeitige Impfungen zu achten.“
Laut Empfehlungen sollte die aus drei Impfstoffdosen bestehende Grundimmunisierung bei Kindern gegen Polio mit zwölf Monaten abgeschlossen sein. Aktuelle Impfquoten zeigen jedoch, dass die dritte Impfdosis meist zu spät verabreicht wird. Deswegen haben bundesweit mehr als eine halbe Million Kinder eines Geburtsjahrgangs zum ersten Geburtstag noch keinen vollständigen Impfschutz. Mit zwei Jahren sind es immer noch mehr als 180.000 Kinder pro Jahrgang.
Zudem gibt es große regionale Impflücken: In manchen Landkreisen sind weniger als 60 Prozent der Zweijährigen geschützt. Im Landkreis Marburg-Biedenkopf ist die Impf-Quote höher und beläuft sich auf rund 80 Prozent der Zweijährigen, die geschützt sind.
Die Ständige Impfkommission (STIKO) empfiehlt allen, den Impfschutz gegen Polio zu überprüfen und zu vervollständigen. Das gilt besonders für Kinder, aber auch für Jugendliche und Erwachsene. Für medizinisches Personal und den öffentlichen Gesundheitsdienst gibt es spezifische Empfehlungen beim RKI.
Kinder im Alter zwischen zwölf Monaten und acht Jahren sollten mindestens drei Mal gegen Poliomyelitis geimpft worden sein, wobei der Abstand zwischen der ersten und zweiten Impfung mindestens vier Wochen und zwischen der letzten und der vorletzten Impfung mindestens sechs Monate betragen soll. Bei Personen ab acht Jahren sollte eine vierte Dosis als Auffrischung im Abstand von fünf bis zehn Jahren zur letzten Dosis gegeben werden. In Deutschland wird nur mit dem inaktivierten Polio-Impfstoff „IPV“ geimpft.
Die Impfung bietet einen fast 100-prozentigen Schutz vor der Erkrankung. Für Fragen rund eine Impfung gegen die „Kinderlähmung“ können sich Interessierte an ihre Haus- oder Kinderarztpraxis wenden. Weitere Informationen bietet das Gesundheitsamt auch online unter www.marburg-biedenkopf.de/soziales_und_gesundheit/inhalte/polioviren-im-abwasser.php.
* pm: Landkreis Marburg-Biedenkopf