Die Nazis waren in Deutschland nach dem Ende des 2. Weltkriegs noch nicht entmachtet. Das verdeutlichte ein Vortrag von Gerhard Bökel am Mittwoch (8. Februar) im Rathaus.
Der ehemalige SPD-Politiker las am Mittwochabend im Historischen Saal des Rathauses aus seinem Buch „Bordeaux und die Aquitaine im Zweiten Weltkrieg“. Darin behandelt er auch die Karriere des dortigen GeStaPo-Kommandeurs Hans Luther und die Unterstützung des Marburger Juristen Prof. Dr. Erich Schwinge für diesen Kriegsverbrecher. Speziell für den Marburger Vortrag konzentrierte er sich weitgehend auf Luther und Schwinge sowie deren juristische Rechtfertigungsstrategien.
Der vorherige Frankfuerter Richter Luther wurde zum Kommandeur der Sicherheitsbehörden für das besetzte französische Gebiet rund um Bordeaux berufen. In dieser Funktion beteiligte sich der Jurist nicht nur an Deportationen und der Erschießung von „Geiseln“, sondern betrieb derartige verbrecherische Aktionen auch überaus aktiv. Nur der Besonnenheit eines deutschen Unteroffiziers war es zu verdanken, dass die Hafenanlagen von Bordeaux beim Abzug der deutschen Besatzungstruppen nicht vollständig zerstört wurden, wie die Behörden es angeordnet hatten.
Im Gegensatz zu diesem Soldaten, der in Deutschland als „Befehlsverweigerer“ und „Saboteur“ verfolgt und seiner Pensionsansprüche beraubt wurde, konnte Luther nach Kriegsende jedoch trotz seiner Kriegsverbrechen weiterhin in der hessischen Justiz als Richter agieren. Kurz nach Kriegsende war er zunächst in Frankreich vor Gericht gestellt worden. Ihm drohte ein Todesurteil wegen seiner zahlreichen Kriegsverbrechen.
Unterstützung erhielt Luther in dem Prozess jedoch von einer eigens vom Deutschen Bundestag gegründeten und finanzierten Institution unter Leitung eines ehemaligen Nazi-Juristen sowie von Schwinge. Der Marburger Rechtsprofessor war während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft oberster Militärrichter der sogenannten „Ostmark“ und maßgeblicher Mitverfasser des einzigen juristischen Kommentars zum Wehrstrafrecht gewesen. Nach Kriegsende konnte er seine rechtsradikale Rechtsauffassung an der Philipps-Universität ungehindert weiterverbreiten.
Ihm gelang es, für Luther eine Haftstrafe „herauszuholen“, die mit seiner Untersuchungshaft schon abgegolten war. Kern seiner juristischen Argumentation war die Behauptung, dass die Partisanen der französischen „Resistance“ keine Widerstandskämpfer gewesen seien, sondern „Terroristen“, da sie nicht uniformiert gewesen seien. Die Besatzung Frankreichs durch deutsche Truppen stellte er damit zugleich als rechtmäßig dar, wodurch ihre Aktionen gegen Aufständische als angeblich notwendige „Wiederherstellung des Rechts“ anzusehen seien.
Nach seiner erfolgreichen Rückkehr in den Staatsdienst als Richter am Landgericht Limburg legte Luther seine Argumentation zur angeblichen Rechtmäßigkeit der Aktivitäten des Polizeikommandanten von Bordeaux sogar in einer Dissertation nieder. Dafür erhielt er von Schwinge sogar die Doktorwürde, ohne dass in der Arbeit selbst auch nur in einem Wort erwähnt wurde, dass der Verfasser darin seine eigenen Taten rechtfertigte. Bis zu seinem Lebensende im April 1994 vertrat Schwinge die zugrundeliegende Argumentation.
Luther hatte Schwinge bereits 1935 kennengelernt. Ebenso wie Schwinge war auch Luther NSDAP-Mitglied. Während Luther erst nach Frankfurt und später nach Bordeaux ging, verbrachte Schwinge die Zeit des Zweiten Weltkriegs als Militärrichter in Wien und erließ dort auch Todesurteile beispielsweise wegen „Kameradendiebstahls“.
Die deutsche Militärgerichtsbarkeit sei weitgehend vom NS-Regime unabhängig gewesen und habe sich im Rahmen des Rechts bewegt, behauptete Schwinge 1977 in einer Veröffentlichung über die Wehrstrafjustiz in der Nazi-Zeit. Ihre vielen harten Urteile seien notwendig gewesen, um die Moral in der Wehrmacht aufrechtzuerhalten. Auch bei den Alliierten habe eine vergleichbare Gerichtsbarkeit mit ähnlicher Härte bestanden.
Die Urteile der deutschen Militärgerichte der NS-Zeit seien daher als rechtmäßig zu betrachten. Diese Thesen übernahm auch die Rechtsprechung und erkannte damit die Urteile der Militärgerichte als rechtmäßig an. So wirkte Schwinge noch bis in die 90er Jahre hinein an der Verharmlosung der Nazi-Kriegsverbrechen mit.
Dekan Prof. Dr. Constantin Willems vom Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität versprach die Fortsetzung der Aufarbeitung der Geschichte seines Fachbereichs. Als Rechtshistoriker werde er auch entsprechende Doktorarbeiten vergeben.
Ähnlich äußerte sich auch seine Stellvertreterin Prof. Dr. Stefanie Bock. Die Prodekanin des Fachbereichs Rechtswissenschaften ist Direktorin des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse (ICWC) Philipps-Universität. Sie erläuterte kurz die Entwicklung des internationalen Völkerstrafrechts als Grundlage für eine Verfolgung von Kriegsverbrechen nicht nur durch internationale Sonderstrafgerichte, sondern auch durch die deutsche Justiz.
Als erfreulich bezeichneten Anwesende in der abschließenden Diskussionsrunde die Entwicklung des Fachbereichs Rechtswissenschaften in den letzten Jahren. Noch während der 80er Jahre habe er den Fall Schwinge eher totgeschwiegen. Mit der Aufarbeitung der Nazi-Kontinuitäten sei er nun endlich weitergekommen, lobten die einstigen Studenten die anwesenden Lehrenden.
Bökel hat mit seinen Recherchen sowie Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus der „Resistance“ dem Publikum interessante und anschauliche Einblicke eröffnet. Der einstige Hessische Innenminister hat sein Buch sehr eindringlich und prägnant vorgestellt. Für Marburg bleibt danach jedoch noch vieles zu tun, um die Verstrickung der Philipps-Universität in die Kontinuitäten der nationalsozialistischen Seilschaften aufzuarbeiten.
* Franz-Josef Hanke