Bunt und begeisternd: Fest im Stadion mit Rosenwunder und Wollnashorn

Wollnashorn

Das Wollnashorn bei "800: Das Theaterstück" im Georg-Gaßmann-Stadion am 11. Juni 2022. (Foto: Laura Schiller)

„Es ist nicht leicht, 800 Jahre in ein Theaterstück zu packen.“ Diese Erkenntnis der Autorin Anah Filou löste das Hessische Landestheater Marburg (HLTM) mit einer bunten Revue.
„800 (Das Theaterstück) oder Rosenwunder Premium Reloaded“ von Anah Filou feierte am Samstag (11. Juni) Premiere im gut besetzten Georg-Gaßmann-Stadion (GGS). Ihrem Titel wurde die Inszenierung der Intendantin Carola Unser aber frühestens nach 20 Minuten gerecht. Bis dahin folgte ein unaufhörliches Beginnen und wieder neu Beginnen, der Einlauf unterschiedlichster Akteurinnen und Akteure oder Gruppen sowie deren Verschwinden am Rande des großen Sportfelds.
Immer wieder begann Jorien Gradenwitz als „Frau Grin“ mit dem Satz „Es war einmal“, ohne ihn jedoch zu vollenden. Derweil betraten „Die Kontinentalen“ oder ein Cha-Cha-Cha-Tanzchor sowie das Ehepaar Wegener oder die Heilige Elisabeth die Bühne, um gleich danach wieder zur Seite zu treten. Eine große blaue Erdkugel war zu sehen oder ein Rhönrad, das über den Platz rollte.
„Hannah Ahrendt bitte zur Bühne“, lautete eine Ansage. Unmittelbar darauf folgte unter Applaus des Publikums die nächste Ansage: „Die Nazis bitte von der Bühne!“
Danach begannen Fanny Holzer und Marie Wolff als Ehepaar Wegener, die Theorie der „Kontinentalverschiebung“ zu erklären: „In geophysikalischen Kategorien sind 800 Jahre ein sehr kurzer Zeitraum“, betonten sie. Die Einzwängung der Lahn zwischen den Gebirgszügen des Ortenbergs und der Lahnberge auf der einen sowie des Weinbergs und des Schlossbergs auf der anderen Seite sei deshalb nicht so bald zu lösen, weswegen auch die erstrebte Verkehrswende nicht gerade einfach umzusetzen sei.
Die lustigste Figur in dem bunten Geschehen war das „Wollnashorn“. Mit einem behaarten Fell angetan und mit zwei spitzen Stoßzähnen im Gesicht fragte die Schauspielerin Mechthild Grabner immer wieder, ob „es schon angefangen“ habe.
Zudem klagte sie darüber, dass die Ampeln nicht auf langsame Wollnashörner eingerichtet seien. So gelinge es ihr nie, die Schwanallee während einer Grünphase zu überqueren, da die Ampel allein auf den Autoverkehr ausgerichtet sei. Lauter Applaus verriet daraufhin breite Zustimmung aus dem Publikum.
Ein weiterer „Running Gag“ war die Sitzung des Gremiums zur Vorbereitung des Jubiläums. Immer wieder wurde ein Tagesordnungspunkt angekündigt, um die Debatte dann doch wieder auf Nebenschauplätze abzulenken. Immer wieder versuchte „Der Schauspieler“ Metin Turan, die Ergebnisse einer Bürgerbefragung vorzutragen, wobei ihm immer wieder andere ins Wort fielen.
Er war eine der stärksten Figuren in diesem Stück. Überall stellte er sich dazu und beteiligte sich. Minutenlang schüttelte er dem Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies auf der Publikumstribüne begeistert die Hand, was der mit einem ebenso begeisterten Händeschütteln erwiderte.
Als Elisabeth von Thüringen diskutierte Jürgen Helmut Keuchel lange mit sich selbst über das „Rosenwunder“ und beleuchtete es auf seine Bedeutung im Kontext kapitalistischer Verwertungsinteressen. Er fragte sich, ob es gut sei, das Nahrungsmittel Brot durch Rosen zu ersetzen, die die Armen nicht satt machen könnten und ob man da dann überhaupt von einem „Wunder“ sprechen könne. Nicht deutlich wurde indes, dass das sogenannte „Rosenwunder“ nur indirekt mit Marburg zu tun hat, weil Elisabeth von Thüringen das Brot vor 800 Jahren von der Wartburg in die Stadt Eisenach bringen wollte.
Boris Pasternak wurde in gleich drei Gestalten seines Romans „Doktor Zhivago“ auf die Bühne des Georg-Gaßmann-Stadions gebracht. Die Tonja spielte Saskia Boden-Dilling, die Lara verkörperte Lisa Grosche und den Juri Zhivago der Schauspieler Georg Santner. Mit dem Verweis auf den Nobelpreis für Pasternak fügte Filou dem Marburger „Stadtheiligen“ Emil von Behring damit noch einen zweiten Nobelpreisträger hinzu.
Der dritte im Bunde wurde im Stück nicht erwähnt, aber auch der Atomphysiker Otto Hahn „ist einer der vielen, die in Marburg studiert haben“, wie sich Filou ausdrückt. Doch auch Behring oder Ahrendt kamen bei der Festtagsinszenierung nur am Rande kurz vor.
Dafür gab es aber viel Musik. Die Geschichte, „als die Beatles nicht nach Marburg“ kamen, sorgte für gleich drei Nachinterpretationen der „Fab Four“. Besonders gegeisterte dabei Olena Marchenko mit einer – teils auf ukrainisch gesungenen – Fassung von John Lennons „Imagine“.
Letztlich ist Regisseurin Carola Unser und Autorin Anah Filou mit ihrer Inszenierung dann die „Quadratur des Kreises“ doch noch gelungen. Die vielschichtige bunte Revue rund um Marburg und seine Geschichte war nicht nur voll von Anspielungen auf Gestalten und Geschichten aus der mittelhessischen Universitätsstadt, sondern auch voller bunter Ideen. Vor allem war allen 100 Beteiligten wie auch dem langanhaltenden Applaus des begeisterten Publikums eine unbändige Freude über das Stadtjubiläum und das große Fest im Stadion anzumerken.
Manchen hat die Darbietung so gut gefallen, dass sie mit Freunden noch ein weiteres Mal hingehen möchten. Angesichts der vielen Anspielungen werden sie wahrscheinlich noch viel Neues entdecken.

* Franz-Josef Hanke