„Immer ein Kanadist im Herzen“, nannte Andrea Meyer Prof. Dr. Martin Kuester. Zeitgleich mit dem Beginn seines Ruhestands beging das Kanada-Zentrum der Philipps-Universität sein 20. Jubiläum.
Die 20. Tagung des Kanada-Zentrums vom Donnerstag (9. Juni) bis Samstag (11. Juni) lief unter dem Titel „Journeys across B/Orders“ („Reisen über Grenzen/Ordnungen“). So wie man über den Titel stolpert, würden viele auch über Grenzen stolpern, sagte Meyer, die von der kanadischen Botschaft in Berlin angereist war. 100 Millionen Flüchtlinge seien zurzeit dabei, Grenzen zu überschreiten.
Die Konferenz befasste sich hauptsächlich mit Reisen, Grenzen und Ordnungen in kanadischer Gesellschaft und Literatur. Akademikerinnen und Akademiker aus der ganzen Welt sowie kanadische Autorinnen und Autoren waren dazu nach Marburg gekommen.
Darunter war die kanadische Romanautorin Larissa Lai, die am Freitag (10. Juni) aus ihren Werken las. Auf dem Programm standen zahlreiche Panels, Lesungen und Diskussionen zu Themen aus Literatur, Literaturkritik, Kulturwissenschaften, Linguistik und Fachdidaktik.
Dr. Alessandra Boller von der Universität Siegen erklärte, dass Grenzen oft von paradoxer Natur sein. Eigentlich nur imaginäre Linien zwischen angrenzenden Bereichen, seien sie doch mit so viel mehr verbunden, zum Beispiel mit Menschenrechten, Heimat, Dazugehörigkeit, Ausgrenzung, Moralvorstellungen, und vielen mehr. „Kanada, was häufig als ein Paradebeispiel für Freiheit und Multikulturalismus betrachtet wird, gibt uns viele Möglichkeiten, kritisch über Grenzen zu diskutieren“, sagte Boller.
„Kuesters Einsatz für Kanadische Studien hat Grenzen überschritten“, sagte Walaa‘ Said vom Zentrum für Nah- und Mitteloststudien der Philipps-Universität. Vor 20 Jahren übernahm er die Leitung der „Interdisziplinären Arbeitsgruppe Kanada“. Daraus entwickelte sich das Kanada-Zentrum, das dafür sorgte, dass Marburg einer der wichtigsten Standorte für Kanada-Studien in Deutschland wurde.
Zur Tagung eingeladen war auch einer von Kanadas „poet laureates“ („preisgekrönter Dichter“). „George Elliott Clarke ist einer der führenden Stimmen kanadischer Dichtung“, stellte Kuester den Autor vor, mit dem ihn eine lange Freundschaft verbindet.
Aus Clarkes Feder stammen zahlreiche Gedichtbände, Romane, Bühnenstücke, akademische Artikel und sogar eine Kammeroper. Zu der Konferenz brachte er zwei seiner Werke mit.
Zunächst las er aus „Canticles II“. Das epische Gedicht wird sich in sechs Bände aufteilen, wovon drei bereits erschienen sind. Sie erzählen die Geschichte der Menschheit neu.
„Canticles II“ ist dabei eine nacherzählte Form des Alten Testaments und einiger biblischer Apokryphen aus der Perspektive eines Afro-Kanadier – „Africadians“ – wie Clarke. „Ich möchte dabei keinesfalls blasphemisch rüberkommen“, stellte er klar.
Wichtigkeit habe dabei für ihn vor allem die Stelle aus Salomon 1.5 „I am black and beautiful“ („Ich bin schwarz und schön“). Diese Passage habe in der Vergangenheit wie heute schwarzen Menschen dabei geholfen, sich selbst als schön und würdig anzusehen, obwohl ihnen die Welt das Gegenteil zu vermitteln versuchte. Es gab ihnen etwas, woran sie sich festhalten konnten.
Das zweite Werk, welches Clarke mitbrachte, war der Gedichtband „J’accuse“. Er behandelt die Zeit, in der Clarke „gecancelt“ wurde.
Er berichtete von dem Kontext. Ein Mann namens Stephen Kummerfield gab ihm seine Gedichte zu lesen, die Clarke als sehr gut empfand. Daraus entwickelte sich eine 14-jährige Brieffreundschaft.
2019 gestand ihm Kummerfield, dass er 1995 zusammen mit einem anderen Mann die indigene Frau Pamela George vergewaltigt und umgebracht hatte. Weil George eine Sexarbeiterin war, erhielt Kummerfield nur dreieinhalb Jahre Gefängnisstrafe.
Als Clarke das hörte, beendete er die Freundschaft sofort. Zu dieser Zeit sollte er eine Rede über Morde an indigenen Frauen halten. Die Familie der ermordeten George wandte sich an das kanadische Fernsehen, da sie annahmen, dass Clarke den Mörder verteidigen wollte.
Clarke stammt selbst von dem indigenen Volk der Cherokee ab und wollte seinen Vortrag George widmen. Aber eine Cancel-Kampagne behauptete, er stünde auf der Seite der Mörder. „Sie wollten mich durch ihren Schlamm ziehen“, berichtete er.
Das erste Gedicht in „J’accuse“ ist ein Gesang gegen den Genozid an indigenen Völkern, den Clarke bereits 2017 schrieb. Beim Vortragen wurde er sehr emotional und dabei immer lauter. Man merkte, wie nah ihm das Thema ging. Der Gesang forderte Gerechtigkeit für die „Massakrierten“, und wiederholte oft „someone’s guilty of a million crimes“ („irgendjemand ist schuld an Millionen Verbrechen“).
*Laura Schiller