Rauben für Raubbau: Forscher untersuchen Rohstoffextrativismus

Ein neues Verbundprojekt untersucht „Rohstoffextraktivismus in Lateinamerika und dem Maghreb“. Dafür erhält es mehr als zwei Millionen Euro.
Die Universität Kassel wird gemeinsam mit der Philipps-Universität in den nächsten drei Jahren in einem Verbundprojekt die gesellschaftlichen Auswirkungen von Rohstoffausbeutung im Globalen Süden untersuchen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert den Forschungsverbund mit mehr als zwei Millionen Euro für eine erste Phase von drei Jahren. Neben den beiden Projektleitern Prof. Dr. Hans-Jürgen Burchardt aus Kassel) und Prof. Dr. Rachid Ouaissa aus Marburg wird das Projekt von Dr. Hannes Warnecke-Berger aus Kassel koordiniert.
Unter dem Titel „Rohstoffextraktivismus in Lateinamerika und dem Maghreb“ vereint der Verbund ein interdisziplinäres und internationales Team von Forschenden und Gastwissenschaftler:innen, die gemeinsam das Entwicklungsmodell Rohstoffextraktivismus ergründen. Man spricht von „Extraktivismus“, wenn die wirtschaftliche Produktion weitgehend auf dem Abbau und dem Export von nicht erneuerbaren Rohstoffen basiert.
Viele Länder des Globalen Südens betreiben Rohstoffextraktivismus; Lateinamerika und der Maghreb stehen exemplarisch für dieses Modell.
Leitend ist die Hypothese, dass sich trotz großer kultureller, sozialer oder religiöser Unterschiede in den verschiedenen Weltregionen durch Rohstoffausbeutung ähnliche gesellschaftliche Muster herausbilden. „Sei es durch instabile Preise oder schwankende Nachfrage: Rohstoffextraktivismus ist krisenanfällig und führt zu wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verwerfungen. Die ökologische Transformation im Westen kann solche Krisen sogar verschärfen.
Einerseits zielen Nachhaltigkeitspolitiken auf sinkenden Rohstoffeinsatz und entziehen damit den Rohstoffgesellschaften die wirtschaftliche Grundlage. „Andererseits basieren Umweltstrategien wie Elektromobilität auf einer neuen, oft stark belastenden Ressourcenausbeutung (zum Beispiel Lithium)“, erklärte Burchardt.
Das Projekt untersucht diese Schattenseite der ökologischen Wende in Lateinamerika und im Maghreb in transregionaler Perspektive.
In Ländern wie Marokko, Algerien, Tunesien, Chile, Venezuela und Ecuador sollen die Krisenszenarien, Wandlungsmöglichkeiten sowie das Beharrungsvermögen des Entwicklungsmodells Rohstoffextraktivismus analysiert werden. „Das Projekt will Rohstoffgesellschaften nicht als Abweichung vom westlichen Entwicklungsweg, sondern in ihrer Eigenlogik verstehen und verbindet einen starken empirischen Fokus mit Theoriearbeit“ erläutert Prof. Ouaissa. Methodisch wird ein Bogen von breiten Feldforschungen vor Ort hin zu einem stringenten transregionalen Vergleich gespannt und so der Kenntnisstand der (cross-)area studies erweitert.
„Dieses spannende Projekt verweist auf die existentielle Notwendigkeit, Entwicklung nachhaltig zu denken“, kommentiert die Vizepräsidentin der Universität Kassel und Mitglied des CELA-Vorstandes Prof. Dr. Ute Clement das Vorhaben. Das neu gegründete Zentrum für Nachhaltige Entwicklung und Transformationen an der Universität Kassel wird in Lehre und Forschung ähnliche Perspektiven verfolgen und bietet dem Projektverbund zahlreiche Anknüpfungspunkte
Neben innovativer Forschung und Nachwuchsförderung ist ein breiter Wissenstransfer in Politik und Gesellschaft und insbesondere in die Entwicklungszusammenarbeit vorgesehen. Für die Einbeziehungen von Studierenden der beiden Universität aber auch der breiteren Öffentlichkeit ist eine Kasseler-Marburger Vorlesungsreihe geplant.
„Das Vorhaben wird nicht nur die wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Regionalstudien an den zwei Standorten in Kassel und Marburg stärken, sondern auch die zwei Maria Sibylla Merian-Zentren in Mexiko und Tunesien, CALAS und MECAM, im transregionalen Vergleich zwischen Lateinamerika und dem Maghreb verzahnen“, verdeutlichte der Marburger Uni-Vizepräsident Prof. Dr. Michael Bölker. Das Projekt gliedert sich in drei Phasen: Einleitend wird das Entwicklungsmodell Extraktivismus konzeptionell erfasst und im Anschluss an existierende Theorieansätze in seinen transregionalen Varianzen einer tiefergehenden Analyse von partikularen Entwicklungsmustern, insbesondere in seiner gesellschaftlichen und politischen Binnenwirkung zugänglich gemacht.
In einer zweiten Phase vertieft das Projekt die Erforschung etablierter Verteilungs-, Konflikt-, und Legitimationsmuster. Unter welchen Bedingungen ermöglichen diese Muster die Transformationsfähigkeit rohstoffexportierender Gesellschaften und wo behindern sie sie?
Danach wird untersucht, wie weit das Entwicklungsmodell in das Alltagsleben hineinreicht und Kultur und habituelle Routinen beeinflusst. Daran schließt die Frage an, unter welchen Bedingungen Krisen über die Verhärtung die Beständigkeit des Entwicklungsmodells stützen oder aber über die Dynamisierung dieser Faktoren Transformationen befördern. Intensive Feldforschung in drei Ländern pro Region und ein intra- als auch interregionales Vergleichsdesign leiten den Erkenntnisprozess.
Die Projektphasen werden an beiden Standorten durch ein internationales Stipendienprogramm begleitet. Weitere Informationen zum Projekt finden Interessierte unter www.extractivism.de.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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