Das politische Klima in Deutschland ist desolat. Das beklagen fast alle.
Die Schuld an der zunehmenden Verrohung der Sitten suchen die meisten jedoch nur bei den Anderen. Das eigene Verhalten kritisch zu reflektieren, kommt ihnen überhaupt nicht in den Sinn. Würden sie einmal ihre eigene Diskurskultur hinterfragen und sich in die Rolle des jeweiligen Gegenüber hineindenken, dann könnten manche ein blaues Wunder erleben.
Unnachgiebige Härte und rechthaberische Ignoranz könnten viele nämlich nicht nur bei Rechtspopulisten finden, sondern auch bei Menschen, die sich selbst als „links“ oder „aufgeklärt“ bezeichnen. Erbitterte Debatten um Gender-Sternchen sind nur ein Beispiel dafür, dass manchen das Mitgefühl mit ihren Mitmenschen fehlt. Einerseits verstehen viele nicht, dass vor Allem Nichtbinäre Menschen nicht immer unter alle sprachlichen und gesellschaftlichen „Tische“ fallen wollen und auch ihr Recht auf Respekt einfordern; zum Anderen wollen einige selbstgerechte Sternenbannerträger nicht akzeptieren, dass Sonderzeichen mitten im Wort beispielsweise für Blinde eine Hürde darstellen und dass viele Ältere große Schwierigkeiten damit haben, sich im Halbjahresrhythmus an die gerade gültige neue Sprachregelung anzupassen sowie Sprache als freien Ausdruck ihres persönlichen Denkens betrachten.
Demokratie bedarf des respektvollen Aushandelns von Kompromissen. Dafür ist eine Grundbereitschaft vonnöten, die andere Meinung zumindest als zulässig zu betrachten, solange sie nicht die Menschenwürde oder das Lebensrecht Anderer in Frage stellt. Demokratie baut auf Klugheit und Empathie sowie die Geduld, die das ausdauernde Bohren dicker Bretter mitunter erfordert.
Solidarität ist die wichtigste Bedingung gesellschaftlichen Übberlebens in Krisenzeiten. Dieser gesellschaftliche Zusammenhalt ist jedoch in den vergangenen vier Jahrzehnten durch neoliberale Propagandaverächtlich gemacht und verhöhnt worden. Zudem wurde sie dem Diktat der Kosten-Nutzen-Rechnung und damit letztlich der Durchsetzung der Stärkeren auf Kosten der Schwächeren geopfert.
Mitgefühl macht Menschen aber resilienter und zukunftsfähig. Das sollten alle einmal ausprobieren, wenn sie vermeintlich Schwächeren begegnen. Mitgefühl ist dabei aber nicht herablassendes Mitleid von einer höheren Warte aus, sondern der Gedanke, dass dergleichen einem selbst vielleicht auch einmal passieren könnte.
Solidarität war die Überlebensversicherung des 19. Jahrhunderts. „Weniger ist mehr“ könnte der Leitspruch des 21. Jahrhunderts werden. Dann werden vielleicht auch diejenigen weniger, die aus lauter Angst um ihre vermeintliche „Freiheit“ und ihren eigenen Wohlstand die Rechte aller anderen Menschen einschränken und unterdrücken wollen.