Marburg punktet fünffach mit risikoreicher Forschung. Die Philipps-Universität erhält Bewilligungen für Projekte aus Krebsmedizin, Chemie, Neurowissenschaft, Psychologie und Arzneimittelforschung.
Die Philipps-Universität hat gleich fünf Forschungsvorhaben in der hessischen Förderlinie „LOEWE Exploration“ eingeworben, die risikoreiche Projekte finanziert – Marburg setzt sich damit an die Spitze der hessischen Hochschulen und Forschungseinrichtungen, was die Anzahl der bewilligten Vorhaben in dieser Runde angeht. Auch am weiterhin geförderten LOEWE-Zentrum „emergenCITY“ der Technischen Universität Darmstadt ist die Philipps-Universität beteiligt.
Von der Krebsbekämpfung bis zur Hirnforschung, von der Künstlichen Intelligenz bis zur App-Entwicklung reicht das Spektrum der Vorschläge für neue Forschungsprojekte, mit denen sich Marburger Arbeitsgruppen erfolgreich an der aktuellen Runde der hessischen Landesexzellenzinitiative „LOEWE“ beteiligt haben. „Angesichts der drängenden Probleme, vor denen die Weltgesellschaft steht, muss Forschung Risiken eingehen, um neuartige Lösungsansätze zu finden“, erklärte Uni-Vizepräsident Prof. Dr. Gert Bange. „Die Uni Marburg ermutigt ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Kräften, in ihrer Forschung Neuland zu betreten, um Zukunftsfragen zu beantworten. Die Vielzahl und Vielfalt der bewilligten Anträge zeigt: Bei uns herrscht ein Geist der Offenheit und Neugier, der wagemutige Forschung beflügelt.“
Wie entfernt man Proteine, die zur Krebsentstehung führen, aus Krebszellen? Dieser Frage geht das Projekt „Degradobodies – Zellpenetrierende Monobodies zum Abbau onkogener Transkriptionsverfahren“ nach. Das Projekt des Biochemikers Prof. Dr. Oliver Hantschel wird mit 299.000 Euro gefördert. Krebs wird durch Veränderungen des genetischen Materials der Zelle –
sogenannter „Onkogene“ – verursacht. In der Folge teilen sich Zellen unkontrolliert und es entstehen Tumore. Seit dem Jahr 2000 wurden für die Behandlung von Krebspatientinnen und -patienten neue Medikamente zugelassen, die an Onkogene binden und deren Signalweiterleitung blockieren.
In den vergangenen zehn Jahren wurden zweiarmige Moleküle entwickelt, die Onkogene mit einem Arm blockieren und mit dem zweiten Arm deren Zerstörung in Krebszellen einleiten. Dieser neue Ansatz hat bisher noch zu keinem zugelassenen Medikament geführt und ist bisher auch nur für wenige Onkogene anwendbar.
Das Team im „Degradobodies“-Projekt versucht dieses Problem zu lösen, indem es Antikörper-ähnliche Proteine verwendet. Diese sogenannten „Monobodies“ können schnell und kostengünstig gegen jedes beliebige Onkogen entwickelt werden. Die Forschungsgruppe wird Monobodies an ein zweites Molekül koppeln, das dann die Zerstörung des Onkogens einleitet – ein möglicherweise bahnbrechend neuer Ansatz, mit der sich eine Vielzahl von zur Zeit noch unzugänglichen Onkogenen bekämpfen lassen.
Augenbewegungen dienen als Fenster in das Gehirn. Das Projekt „OculoMotifs“ wird mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) große Datensätze von Augenbewegungen in natürlichem Kontext analysieren, um damit neue Biomarker für neuropsychiatrische Erkrankungen und gesundes Altern zu entdecken. Das Projekt des Neurophysikers Prof. Dr. Frank Bremmer wird mit knapp 248.000 Euro gefördert.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass sich unter Laborbedingungen Augenbewegungen sowohl über die Lebensspanne hinweg als auch bei bestimmten neuropsychiatrischen Erkrankungen in charakteristischer Weise verändern. „Ein vollständiges Verständnis der Blickmotorik erfordert jedoch Untersuchungen in natürlichem Kontext“, erklärte Projektleiter Bremmer.
Bislang werden Augenbewegungen, die man historisch bedingt in sechs Klassen unterteilt, stets als voneinander unabhängig betrachtet. Die Forschungsgruppe von „OculoMotifs“ geht davon aus, dass diese Annahmen nicht vollständig sind. Das Team vermutet, dass sich Augenbewegungen ähnlich einer Sprachstruktur zusammensetzen: Die kleinsten Elemente (Buchstaben beziehungsweise ,OculoCharacters‘) bilden in spezifischen Anordnungen (Wörtern f. . ,OculoWords‘) Klassen von Augenbewegungen, die wiederum im natürlichen Kontext in charakteristischen Abfolgen (Sätzen beziehungsweise ,OculoSentences‘) auftreten.
Diese Elemente (Character, Word, Sentence) sollen mit Verfahren der Künstlichen Intelligenz identifiziert und charakterisiert werden. Dafür analysiert das Team bereits erhobene, große und in ihrer Diversität weltweit einzigartige Datensätze von Augenbewegungen.
Eine App soll die Prävention von Angststörungen und Depressionen verbessern: Dieses Ziel verfolgt das neue LOEWE-Vorhaben der Qualifikationsprofessorin Dr. Anna-Carlotta Zarski aus der klinischen Psychologie der Philipps-Universität Marburg. Das Projekt wird für die nächsten zwei Jahre mit 299.000 Euro gefördert.
Das Forschungsteam setzt auf eine App, die auf DyKI-JITAI beruht, das steht für dyadisch-basierter, KI-gesteuerter Just-In-Time-Adaptiver-Interventionsmechanismus: Eine solche App bietet, gesteuert durch Künstliche Intelligenz und Präferenzen der Teilnehmenden, maßgeschneiderte kognitiv-verhaltenstherapeutische Inhalte und Übungen für Personen mit Angststörungen und Depressionen.
„Um die Wirksamkeit und Effizienz der Prävention zu steigern, ist es erforderlich, angepasst auf individuelle Bedürfnisse zu reagieren“, erklärte Antragstellerin Zarski. Sie kooperiert bei dem Vorhaben mit Claudia Buntrock, Juniorprofessorin für Public Health und Versorgungsforschung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.
Das Team wird eine App testen, die präventive kognitiv-verhaltenstherapeutische Inhalte und Übungen vermittelt. Zur Unterstützung und um die Verbindlichkeit zu erhöhen, wird in der App eine Trainingspartnerin oder ein Trainingspartner verknüpft. Dadurch sollen sich die Symptome der Betroffenen signifikant verbessern und der Entstehung vollausgeprägter Störungsbilder langfristig vorgebeugt werden.
Werden weibliche Geschlechtshormone – also Östrogene – aktiv in Brustkrebszellen aufgenommen, so fördert das die Entstehung und Vermehrung von Brustkrebszellen. Die aktive Aufnahme in Brustkrebszellen erfolgt über ein Transportsystem in der Zellmembran, das erst vor einigen Jahren neu entdeckt wurde. Das neue LOEWE-Projekt von Prof. Dr. Wibke Diederich aus dem Marburger Fachbereich Pharmazie und ihrem Gießener Kollegen Prof. Dr. Joachim Geyer ist darauf angelegt, Wirkstoffe zu entwickeln, die dieses Transportsystem hemmen.
Solche Hemmstoffe können dann zur Therapie von östrogen-abhängigen Brusttumoren eingesetzt werden. „Als Grundlage dienen Moleküle der Phenylsulfonamid-Klasse, die ursprünglich für eine ganz andere medizinische Anwendung entwickelt wurden“, erläuterte Diederich. „Eine selektive Hemmung des Transporters durch einen derartigen Wirkstoff könnte langfristig eine neue Therapieoption für die Behandlung von hormonabhängigem Brustkrebs eröffnen.“ Diederich und Geyer erhalten für ihr Projekt 295.000 Euro aus dem LOEWE-Topf.
Verbinden sich Metall-Ionen und organische Brückenmoleküle, dann entstehen so genannte Koordinationspolymere. So mannigfaltig deren Verknüpfungen, so vielfältig sind auch die physikalischen und chemischen Eigenschaften dieser hybriden Kunststoffe.
Das neue LOEWE-Projekt des Marburger Chemikers Dr. Gunnar Werncke zielt darauf ab, die Wechselwirkung von Metallen wie Eisen und Kobalt mit organischen Brückenmolekülen zu stärken. Dafür setzen Werncke und sein Team auf einen speziellen Bindungstyp: die Metall-Stickstoff-Doppelbindung. „Dieser Bindungstyp ist bislang für Übergangsmetalle wie Kobalt und Eisen nicht ausreichend verstanden, zeigt aber eine ausgeprägte elektronische Flexibilität“, erklärte Werncke.
Diese Flexibilität soll für den Elektronenübergang zwischen Metallionen und für besondere magnetische Eigenschaften genutzt werden. Der verfolgte Ansatz soll sich auch auf Kunststoffe mit verschiedenen Metallen übertragen lassen, sodass sich deren Eigenschaften gezielt einstellen lassen. „Unser Vorhaben könnte ein völlig neues wissenschaftliches Forschungsfeld zu Hybridmaterialien erschließen“, legte der Chemiker dar.
Dabei würden fundamentale Fragen der Wechselwirkung zwischen Metallionen beantwortet, aber auch mögliche Anwendungen für Elektronik und Informationsspeicherung in den Blick genommen. Das Team erhält dafür 279.000 Euro aus der LOEWE-Förderlinie.
* pm: Philipps-Universität Marburg