„So viele waren hier lange nicht mehr“, stellte Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies erleichtert fest. Die besonderen Umstände hatten einen außergewöhnlichen Andrang ausgelöst.
Mehr als 850 Menschen waren am Donnerstag (9. November) zur „Besinnungsstunde“ in den Garten des Gedenkens gekommen. Sie standen auf den gesamten Gelände der – 1938 an dieser Stelle abgebrannten – jüdischen Synagoge wie auch auf der Universitätsstraße bis zum gegenüberliegenden Savignyhaus. „Auch der Rasen kann betreten werden“, hatte Spies zu Beginn der Gedenkstunde mitgeteilt, um den Menschen das Dabeisein überhaupt zu ermöglichen.
Eingeladen hatten die Stadt Marburg, die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit und die Jüdische Gemeinde Marburg. Die eindrücklichen Reden erinnerten nicht nur an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger Marburgs, die Opfer nationalsozialistischer Gewalt wurden. Sie zeigten auch auf, dass Nachbarinnen und Freunde wegen ihres Glaubens auch heute noch Antisemitismus ausgesetzt sind; dass sie heute wieder mit mehr Angst leben müssen; dass alle gefordert sind, gemeinsam dagegen zu stehen.
Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am Samstag (7. Oktober) prägte alle Gedanken und Reden der Zusammenkunft. Das begann bereits mit der Begrüßungsrede des Oberbürgermeisters, in der er den Schwur der Überlebenden des Zweiten Weltkriegs nach dem Holocaust ansprach: „Nie wieder ist jetzt.“
„Antisemitismus war schon vor 1938 und nach 1945 ein Teil unserer Gesellschaft“,erklärte Spies. „Wir hofften, dass es vorbei ist. Aber es ist nicht vorbei. Es kriecht wieder hervor: die Perfidie, die Boshaftigkeit und Ekelhaftigkeit des Antisemitismus.“
Merklich bewegt fuhr Spies fort: „In Deutschland haben wieder Menschen wegen ihrer Glaubenszugehörigkeit Angst.“ Die Gemeinschaft müsse sich schützen täglich an die Seite aller Menschen stellen, die Angst haben und sich bedroht fühlen; an die Seite derjenigen, die liebe Menschen verloren haben oder in Sorge um sie sind. „Sie alle verdienen unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme.“
Spies kündigte außerdem an: „Wir werden nicht hinnehmen, wenn Menschen jüdischen Glaubens belästigt, beleidigt, bedroht oder gar angegriffen werden.“ Es sei die Aufgabe aller, sich gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu stellen und Rechtsextremismus entgegenzutreten. Es sei wichtig, sich immer wieder mit dem Auseinanderzusetzen, was vor und nach 1938 passiert ist, was am 9. November vor 85 Jahren passiert ist.
„Wir stehen heute gemeinsam hier, um zu gedenken, um uns zu erinnern und um allen, die heute in Sorge sind zu versichern: wir sind bei euch! Und wir sind hier, um aufzustehen, einzustehen füreinander, für unsere Demokratie, die Würde und den Schutz aller Menschen“, bekräftigte Spies.
„Es ist ein Tag der Vergegenwärtigung“, sagte Elisabeth Mertes von der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. „Aber heute geht es auch um die Gegenwart. Heute geht es um unsere Freund*innen, die bedroht werden, unter Polizeischutz stehen und Angst haben
Polina Pevzner von der Jüdischen Gemeinde Marburg fügte hinzu: „Es darf nicht sein, dass die Mehrheit demgegenüber gleichgültig ist. Es geht uns alle an. Wir müssen die Gleichgültigkeit bekämpfen und als Gemeinschaft zusammenhalten.“
Trotzig ergänzte sie: „Wir wollen, dass unsere Synagoge ein offenes Haus bleibt, das alle Menschen besuchen können.“ Für die Jüdische Gemeinde lud sie zu einem Konzert ein.
Möglich sei das nun aber leider nur mit Voranmeldung. „Wir stehen hier in Marburg miteinander“, betonte Pevzner. „Das Miteinander bezieht auch die muslimischen Bürger*innen ein. Wir bedanken uns bei Bilal El-Zayat und seinen Mitstreiter*innen der Islamischen Gemeinde für unseren Zusammenhalt.“
Thorsten Schmermund von der Jüdischen Gemeinde sprach im Anschluss an die mahnenden Worte die Gebete „Kadisch“ und „El male rachamim“. Die beleuchteten Zettelkästen am Boden der Gedenkstätte hatten diesmal Schülerinnen und Schüler der Alfred-Wegener-Schule Kirchhain mit ihren Gedanken befüllt. Sie befassten sich etwa mit Rechtsextremismus und damit, dass man diesen nicht wieder Erstarken lassen dürfe. ZUdem befassten sie sich damit, warum es die Erinnerung braucht. „Damit die Opfer nicht das Gefühl bekommen, unwichtig oder vergessen zu sein“, schrieb etwa Layla. „Wir müssen aktuell als Gesellschaft gemeinsam aufpassen, dass vieles, das wir längst überwunden glaubten, nicht wieder Einzug hält und die Oberhand gewinnt.“
der Lehrer Sebastian Sack, der das Projekt auch im Namen seiner Kolleginnen Claudia Bunzel und Marie Eisenhaber von der AG „Schule ohne Rassismus“ vorstellte. Bildung sei ein zentraler Schlüssel, damit so etwas wie der Holocaust nie wieder geschehe. „Die Zitate der Schüler*innen zeigen, dass es junge Menschen gibt, die mit wachem Blick ihre Augen und Herzen öffnen und uns Hoffnung machen.“
Die Kranzniederlegung und das Gedenken wurden gerahmt von musikalischen Beiträgen des Leistungskurses Musik der Martin-Luther-Schule. Sie schlossen das offizielle Programm ab mit dem Wunsch „Let there be peace on earth“ von Sy Miller und Jill Jackson.
Die Feierstunde war leise und nachdenklich. Zugleich war die Warnung eindringlich, dass Antisemitismus sich nicht nur gegen Jüdinnen und Juden richtet, sondern gegen die gesamte Gesellschaft und ihren Zusammenhalt. Manchen mag das vielleicht Trost gespendet haben in diesen dunklen Zeiten.
* Franz-Josef Hanke