Sinnestäuschung: Nebeneffekt bei schnellen Augenbewegungen erforscht

Gedanken lesen ohne Zauberei können Forscher aus Marburg und Münster. Aus der bloßen Beobachtung der Gehirnaktivität haben die Neurophysiker eine bislang unbekannte Sinnestäuschung vorhergesagt.
Anschließend hat das Team sie in Verhaltensexperimenten nachgewiesen. Demnach verzerrt sich die Wahrnehmung der eigenen Bewegungen, wenn sich die Augen blitzschnell bewegen. Die Wissenschaftler um Prof. Dr. Frank Bremmer berichten in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Nature Communications“ über ihre Ergebnisse.
„Wir sind bei der Analyse neurophysiologischer Daten aus dem Tiermodell auf ein Phänomen gestoßen, das eine Reihe zusätzlicher Experimente veranlasste“, erklärte Studienleiter Bremmer. Er lehrt Neurophysik an der Philipps-Universität.genannte
Üblicherweise untersuchen die Wissenschaftler, wie Nervenzellen aus bestimmten Regionen des Gehirns auf visuelle Reize reagieren, die den Betroffenen eine Bewegung durch den Raum vorspiegeln. Dass Sinnestäuschungen ausschnitthaft zeigen, wie Sinneseindrücke im Gehirn verarbeitet werden, weiß die Hirnforschung seit langem.
„Hier gingen wir nun den umgekehrten Weg“, ergänzte Bremmers Mitarbeiter Dr. Jan Churan, der an der Studie mitgearbeitet hat. „Wir benutzten die elektrischen Signale der Nervenzellen, um zu rekonstruieren, welchen Bewegungseindruck die Betroffenen empfangen.“
Dieses sogenannte „Dekodieren“ gelang den Autoren zufolge meist sehr gut. „Wir haben ein Modell entwickelt, um aus der Entladung der Neuronen zu erkennen, welche Eigenbewegung die Betroffenen empfinden“, führte Bremmers Kollege Prof. Dr. Markus Lappe von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster(WWU) aus. Er ist Mitverfasser der Studie.
Zu bestimmten Zeitpunkten wies das Dekodieren aber scheinbar einen Fehler auf. Diese Zeitpunkte waren immer identisch mit der Ausführung von schnellen Augenbewegungen. Diese sogenannten „Sakkaden“ führen Menschen im täglichen Leben häufiger aus, als ihr Herz schlägt.
Die Daten deuteten darauf hin, dass sich die wahrgenommene Richtung der Eigenbewegung verschiebt, wenn die Probanden schnelle Augenbewegungen ausführen. Die Wissenschaftler vermuteten, dass die bislang nicht bekannte Sinnestäuschung auch in der visuellen Wahrnehmung zu beobachten sein könnte.
Um diese Hypothese zu überprüfen, führte das Team Verhaltensexperimente mit Versuchspersonen durch: Es präsentierte den Probanden eine Simulation, die einen Raum so zeigt, als würde man sich durch ihn hindurch bewegen. Die Teilnehmenden sollten die Richtung dieser vorgespiegelten Eigenbewegung einschätzen.
Wie vermutet, nahmen die Probanden die Richtung korrekt wahr, solange sie keine Sakkaden ausführten; in unmittelbarer zeitlicher Nähe der Sakkade hingegen nahmen sie die Richtung falsch wahr.
„Dies heißt aber nicht, dass wir zum Beispiel beim Autofahren keine schnellen Augenbewegungen mehr machen dürfen“, beruhigte Lappe. „Dies wäre gar nicht möglich, weil Sakkaden meist wie ein Reflex auftreten. Vor allem aber beruht die Einschätzung unserer Eigenbewegung gar nicht nur auf Seheindrücken. Wir besitzen weitere Sinne, die uns über diese kurzen Momente der Sakkaden hinweghelfen, so dass wir uns sicher sein können, in welche Richtung unser Weg führt.“
Bremmer leitet die Arbeitsgruppe Neurophysik an der Philipps-Universität. Der Physiker amtiert als geschäftsführender Direktor des „Marburg Center for Mind, Brain and Behavior“ (MCMBB), ist Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs 1901 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Thema „The Brain in Action“ und gehört dem Vorstand des Sonderforschungsbereichs 135 der DFG zum Thema „Kardinale Mechanismen der Wahrnehmung“ an.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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