Differenziertes Denken fällt vielen schwer. Vielleicht hat Marburg als Universitätsstadt da ja einen Vorteil.
Jahrzehnte- wenn nicht gar jahrhundertelang hat das sogenannte „Technische Weltbild“ das Denken der angeblich „aufgeklärten“ Menschen bestimmt: Alles hat eine Ursache und eine Wirkung. Für jedes Problem gibt es eine Lösung und den passenden Hebel dazu.
Doch die Welt und das Leben in ihr ist nicht so einfach wie dieses Schwarz-Weiß-Denken: Oft gerät ein ganzes System ins Wanken, wenn man an einem einzigen Rädchen dreht. Ursachen und Wirkungen hängen voneinander ab und beeinflussen sich gegenseitig.
Die Natur ist ein sehr komplexes vernetztes System. Die Wissenschaft ist noch weit davon entfernt, alles darin zu verstehen. Die anmaßende Arroganz mancher vermeintlich „Wissender“ ist letztich nichts Anderes als ignorante Dummheit.
Mit ihren einfachen „Lösungen“ haben die Anhängerinnen und vor allem die Anhänger des mechanistischen Weltbilds tief in die Kreisläufe der Natur eingegriffen, ohne sie überhaupt auch nur ansatzweise zu verstehen. Das verstehen viele jetzt angesichts des rasanten Klimawandels und des bedrohlichen Artensterbens. Die Technikgläubigkeit und der Fortschrittsfetischismus sind an der beginnenden Katastrophe ebenso schuld wie die egoistische Gier und der darauf aufgebaute neoliberale Kapitalismus.
Gefährliche Gifte als angeblicher „Pflanzenschutz“ töten nicht nur „Unkraut“, sondern auch die Insekten, die die Pflanzen bestäuben. Abgase vergiften Menschen und Tiere sowie Pflanzen. Versiegelte Flächen in großen Städten erhitzen die Luft und verhindern das Ablaufen des Wassers bei größeren Regengüssen.
Andauernder Lärm dröhnt nicht nur in größeren Städten den Anwohnenden von früh bis spät in den Ohren und raubt ihnen den nötigen Schlaf. Hektik raubt vielen die Zeit zum Nachdenken über sich selbst. Wer nicht zur Ruhe und damit zu sich selbst kommen kann, wird unweigerlich krank.
Aus Frust schießen einige Feuerwerkskörper in die Luft und verpesten sie damit noch zusätzlich. Andere greifen zu Drogen und Alkohol. An Silvesterabenden kommt oft beides in unerträglicher Maßlosigkeit zusammen.
Der Alltag wird zum Alptraum. Die Natur wird zur Müllhalde. Das Leben geht mehr und mehr in ein allmähliches Sterben über.
Eine radikale Wende ist unvermeidlich. Sonst werden die meisten Menschen an dieser großindustriellen Ausbeutung von Mensch und Natur sowie der irreversiblen Zerstörung der Zukunft zugrundegehen. Das ist eine der wenigen Wahrheiten, die intelligente Menschen kaum leugnen können.
Dennoch zögern die politisch Verantwortlichen zu lange mit konsequenten Maßnahmen. Demokratie bedarf schließlich des Ausgleichs unterschiedlichster Interessen. Das Überlebensinteresse der gesamten Menschheit darf aber nicht den Partikularinteressen einzelner Konzerne geopfert werden.
Doch viele wollen diese Dringlichkeit nicht wahrhaben. Sie verweigern sich den Konsequenzen, die das für ihr Leben bedeutet: Sie müssten „verzichten“ auf Wohlstand und die eigene Bereicherung auf Kosten anderer Menschen und ihrer Lebensgrundlagen.
Einfache Antworten sind da sehr angenehm. Ein „Nein“ zum „Verzicht“ ist solch eine Antwort, die den differenzierten Anforderungen an die derzeitige Situation ebensowenig gerecht wird wie ein „Ja“ zum neoliberalen Kapitalismus. Der platte Populismus der Corona- und Klima-Leugner ist da ein willkommener Weg zur Verdrängung der anstehenden Probleme.
Die Technik, die die Menschheit in die Katastrophe hineingeritten hat, kann kaum die Lösung dieser Probleme bringen. Die Erhebung der Menschen aus ihrer Einbettung in die Natur heraus auf eine göttergleiche Stufe der Herrschaft über ihre Umwelt hat die Menschen von ihren Mitgeschöpfen entfremdet. Die Natur ist nicht mehr ihr alltäglicher Lebensraum, sondern nur noch ein exotisches Ausflugsziel an Wochenenden oder im Urlaub.
„Demut“ war einst das Wort für ein Bewusstsein der eigenen Begrenztheit. Wer „Demut oder „Verzicht“ als angeblich „mutlos“ abtut, der ist wahrscheinlich viel mehr beschränkt als diejenige Person, die nach einem Leben im Einklang mit der Natur trachtet. „Vernetztes Denken“ beginnt mit der Einsicht in die Notwendigkeit eigener Selbstbeschränkung.
Das menschliche Hirn kennt sowohl das mechanistische Denken von Ursache und Wirkung sowie „Ja“ oder „Nein“ und „Schwarz“ oder „Weiß“. Es kennt aber auch die vielen Farben und Grautöne der Pflanzen und Tiere oder des Wassers und der Wolken. Das Gehirn selber ist hochvernetzt mit seinen gigantischen Nervensträngen und ihren Verknotungen.
Was früher als „Denken aus dem Bauch heraus“ bezeichnet wurde, das erkennen die Hirnforschenden inzwischen als das vernetzte Denken der neuronalen Netzwerke im Menschen. Was als „logisch durchdacht“ bezeichnet wurde, ist nur die Vorstufe dazu. Denken auf beiden Ebenen erweist sich zunehmend als kluge Anwendung der menschlichen Denkfähigkeit und Erfahrung.
Bis zu acht verschiedene Punkte kann ein Mensch gleichzeitig im Kopf abwägen. Mehr können die beiden Hirnhälften nicht gleichzeitig erfassen. 200 bis 300 Gesichtspunkte kann der Mensch jedoch in Sekundenschnelle unbewusst aus seinem Gedächtnis abrufen, wenn er „aus dem Bauch heraus“ abwägt.
Die Angleichung beider Wege einer Entscheidungsfindung führt am Ende vermutlich zu den besten Ergebnissen: Wenn die logisch durchdachten Ergebnisse mit dem Bauchgefühl übereinstimmen, dann sind sie wahrscheinlich richtiger als dann, wenn Gefühl und Verstand nicht miteinander harmonieren. Diese Erkenntnis hatte bereits der Naturforscher, Politiker, Theaterintendant und Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe.
In Marburg, wo die Geisteswissenschaften in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts eine wahre Blüte erlebt haben, scheint sich noch etwas von Goethes Verständnis von „Verstand“ gehalten zu haben. Die „Vernunft“ eines Immanuel Kant kommt dabei mit dem „Gefühl“ zu einer Einheit zusammen. Dieses „Gefühl“ ist letztlich nichts Anderes als die gelebte Empathie mit den Mitmenschen und den anderen Lebewesen sowie der Natur insgesamt.
Letztlich ist der Mensch Teil der Natur. Sie ist lebensnotwendige Voraussetzung für sein Überleben. Wer die Natur schädigt, der schädigt sich deshalb am Ende auch selbst.
Darum ist „Demut“ eine Tugend und „Verzicht“ am Ende sogar oft ein Gewinn. Wer die eigenen Gewinne auf Kosten anderer erzielt, der verliert damit das Recht auf den Respekt seiner mitfühlenden Mitmenschen. Am Ende ist das Leben die – zeitlich begrenzte – Quadratur des Kreises innerhalb der Kreisläufe von säen und ernten, wachsen und blühen, Werden und Vergehen.
* Franz-Josef Hanke