Kuriose Kreuzung: Unvergessliche Gespräche im Colosseo

Über Jahrzehnte hinweg war das „Colosseo“ im Biegenviertel eins meiner Stammrestaurants. Zahlreiche interessante Begegnungen dort habe ich in bester Erinnerung.
Erbaut wurde das Gebäude „Deutschhausstraße 35“ im Jahr 1927 im sogenannten „Marburger Zackenstil“. An Fenstern, Türen und Dachgabauben ist er noch gut zu erkennen. Bis in die 60er Jahre hinein beherbergte das Haus im Erdgeschoss ein Café.
Zahlreiche Künstler kamen dorthin. Sie brachten ihre Bilder mit, sodass etliche Kunstwerke die Räume zierten. In den 60er Jahren zog dann die „Pizzeria Santa Lucia“ in das Haus an der Kreuzung der Deutschhausstraße mit der Biegenstraße ein.
Als ich 1977 nach Marburg umzog, genoss die „Pizzeria Santa Lucia“ keinen guten Ruf. Komilitonen von mir hatten ihre Wohngemeinschaft im Haus über der Pizzeria. Zu oft bekamen sie ungebetenen Besuch von Kakerlaken.
Nach mehreren Besitzerwechseln übernahm die Familie Vullo das restaurant. 2005 führte sie eine Grundsanierung durch. Seitdem heißt das Lokal „Colosseo“.
Salvatore Vullo betreibt das „Ristorante Colosseo“ heute. An die Tradition der Künstlerkneipe knüpft er wieder an und stellt in seinem Restaurant Kunstwerke aus. Bereits vor dem Namenswechsel hatte sich auch der Ruf des Restaurants erheblich verbessert.
Die Bewohner der WG über dem Lokal haben mit der Zeit auch gewechselt. Zwischenzeitlich war mein Komilitone Franz Kahle in die WG eingezogen. Später holte Bürgermeister Dr. Franz Kahle seine jetzige Ehefrau Nadine Bernshausen nach, die ihm inzwischen auch ins Amt der Bürgermeisterin gefolgt ist.
Im Laufe der Jahre ist mir das „Colosseo“ zu einer zweiten Heimat geworden. Selbst, wenn ich nur auf der Deutschhausstraße daran vorbeigehe, spricht der Wirt mich draußen vor der Tür an und meint: „Josef, Du hast abgenommen.“
Über drei Stufen betritt man den vorderen Gastraum und läuft auf die Theke zu. Rechts befindet sich der große Gastraum. Direkt neben der Theke führt ein schmaler Gang geradeaus in einen kleineren Nebenraum hinten links.
Durch den Gastraum erreicht man einen abtrennbaren Bereich hinten rechts. Dort habe ich oftmals gesessen und Lassagne Bolognese gegessen. Im „Colosseo“ ist das mein Lieblingsessen.
Während der Eingang des „Colosseo“ sich an der Deutschhausstraße befindet, zeigen die meisten Fenster des großen Gastraums zur Biegenstraße hin. Kaum hundert Meter weiter in Richtung Rudolphsplatz wartet mit dem „Tandoori“ ein weiteres Speiserestaurant auf Gäste, das allerdings indische Küche auftischt. Das Ristorante an der Kreuzung mit der eigenwilligen Verkehrsführung und einem diagonalen Fußweg quer über beide Straßen lockt hingegen mit mediteraner Kost.
Häufig bin ich nach Veranstaltungen in der Volkshochschule schräg gegenüber ins „Colosseo“ gegangen, um dort mit Referentinnen und Referenten sowie Teilnehmenden bei gutem Essen weiter zu diskutieren. Vereinzelt war ich selber Moderator des Medienforums gewesen, oft aber auch nur Teilnehmer beispielsweise des „Politischen Salons“ des Marburger Friedensforschers PD Dr. Johannes M. Becker. Fast immer aber waren die Gespräche im Anschluss an die offizielle Veranstaltung aufschlussreich und erhellend.
So erinnere ich ich an ein Gesprächmit dem einstigen Beigeordneten des UN-Generalsekretärs Kofi Anan. Dr. Christian Graf Sponeck erzählte bei Bier und Pasta von den „Cowboys“ in den Vereinten Nationen (UNO) und der Mehrzahl der anderen, zu denen er auch sich selber zählte. Die „Cowboys“ hätten nicht davor zurückgeschreckt, ein mit Richtmikrofonen ausgestattetes Spionagefahrzeug als Krankenwagen zu tarnen und damit Kranke und Verwundete in Gefahr zu bringen.
Den monatlichen Stammtisch des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) im „Colosseo“ besuche ich nur sehr sporadisch. Unvergesslich ist mir aber ein Vortrag des Sportreporters Manni Breuckmann am 19. September 2014. Auf Einladung des Deutschen vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) erzählte der Jurist im „Colosseo“ von seiner Studienzeit in Marburg.
Mitunter hat auch die Humanistische Union (HU) ihre Treffen und Veranstaltungen in dem italienischen Restaurant durchgeführt. Das traditionelle Neujahrsessen der HU hat am 16. Januar 2011 im „Colosseo“ stattgefunden. Gut erinnere ich mich auch noch an einen sehr gut besuchten Vortrag von Prof. Dr. Gerd Lüdemann aus Göttingen über „Die dunklen Seiten der Bibel“ am 3. Mai 2001 in der damaligen „Pizzeria Santa Lucia“.
Besonders berührt aber hat mich ein Gespräch, das ich nach einem Vortrag von Prof. Dr. Adolf Müller-Hellmann mit dem einstigen Hautgeschäftsführer des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) geführt habe. 1988 hatte ich ihn als VÖV-Geschäftsführer in Köln für die Fachzeitschrift „Omnibusspiegel“ über barrierefreie Niederflurbusse interviewt, deren Einsatz er damals für unnötig hielt. Gute zehn Jahre später erklärte er mir in der Marburger Pizzeria, das Interview und der anschließende Siegeszug der Niederflurbusse und -bahnen habe ihn nachdenklich gestimmt und letztlich dazu bewogen, seine Position im VDV zugunsten der Erforschung umweltfreundlicher Elektroantriebe an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) in Aachen aufzugeben.
Wahrscheinlich gibt es einige legendäre Lokale in Marburg; aber das „Colosseo“ gehört sicherlich nicht nur für mich eindeutig dazu.

* Franz-Josef Hanke

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