Jahrzehntelang gehörte die „Lokomotive“ zu meinen Stammlokalen. Das begann gereits 1977 mit meiner Ankunft in Marburg.
Damals war das Lokal schräg gegenüber der Elisabethkirche noch eine deutsche Bier- und Bratwurstkneipe mit Schnitzeln und Pommes Frites. Später hat der Grieche Alexandros Kallioras das Restaurant an der Ketzerbach übernommen. Im Februar 2022 hat der gelernte Koch es nach einer mehrjährigen Unterbrechung schließlich endgültig aufgegeben.
Meine ältesten Erinnerungen an die „Lokomotive“ reichen in die zweite Hälfte der 70er Jahre zurück. 1977 und 1978 besuchte ich das Lokal gelegentlich mit meinen Mitrehabilitanten des „Blindentechnischen Grundlehrgangs“ an der Deutschen Blindenstudienanstalt (BliStA). Neben dem „Anker“am unteren Steinweg gehörte die „Lokomotive“ damals zu unseren Ausweichmöglichkeiten bei Nichtgefallen des Essens im BliStA-Speisesaal.
Eine Zeitlang wurden meine Besuche in der „Lokomotive“ dann seltener. Ab und zu kam ich dorthin, wo Kallioras von den späten 80er Jahren bis 1996 griechische Küche auftischte. Dann zog er um in das „Korfu“ an der gegenüberliegenden Seite der Ketzerbach. Nachdem er dieses griechische Restaurant seinem Sohn übergeben hatte, zog es ihn nach einer kurzen Phase der Untätigkeit wieder zurück in die Küche und in das alte Gebäude.
Den Schriftzug „Lokomotive“ ergänzte seither der Zusatz „bei Alex“. „Alex“ war inzwischen eine Institution in Marburg geworden. Sein Restaurant wurde das auch bald wieder.
Für seine Speisen erhielt er sogar eine Auszeichnung. Für mich zeichnete Alex aber seine klare politische Haltung aus. Immer, wenn ich sein Restaurant betrat, legte er bald darauf Musik von Mikis Theodorakis auf.
Der Grund dafür war meine Frage an ihn gewesen, wie es sein könne, dass der Wirt in einem anderen „griechischen Restaurant“ den berühmtesten Komponisten Griechenlands offenbar nicht kannte. Ich fragte Alex, ob sein Kollege ein Nazi sei oder warum er nichts sagen wollte zu dem engagierten Antifaschisten Theodorakis. Die Lösung fand ich später selbst heraus, als mir klar wurde, dass der Wirt dieses angeblichen „griechischen Restaurants“ gar kein Grieche war, das aber nicht zugeben wollte.
Seither erfreute Alex mich bei meinen Besuchen in der „Lok“ immer mit Musik von Theodorakis. Besonders gern höre ich seinen „Mauthausen“-Zyklus mit einer Vertonung von vier Gedichten des ehemaligen KZ-Insassen Iakovos Kambanellis. Der griechische Dichter hatte das deutsche Konzentrationslager überlebt und diese Erfahrung in Gedichte hineingeschrieben, die Theodorakis angesichts eigener ähnlicher Erfahrungen kongenial vertont hat.
Im Sommer 2017 bediente mich in der Lokomotive ein junger Afrikaner. Sein Deutsch war ziemlich rudimentär. Alex erklärte, der junge Mann sei dreieinhalb Jahre lang zu Fuß vom Mittelmeer aus nach Deutschland gelaufen. „Er ist ein Kämpfer“, sagte Alex. „Darum muss ich ihm hier eine Chance geben.“
Auch Alex war ein Kämpfer. Als Schiffskoch hatte er auf dem Mittelmeer lebensgefährliche Situationen überlebt. Die Corona-Pandemie hat ihn aber am Ende zum Aufgeben gedrängt.
Mitte Februar 2022 hat Alex sein Lokal endgültig geschlossen. Seither pendelt er zwischen Griechenland und Marburg. In meiner Erinnerung bleibt die „Lokomotive“ aber eins der legendären Lokale in Marburg.
* Franz-Josef Hanke
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