Thema Triage: Podiumsdiskussion der Humanistischen Union

Triage

Bei der Podiumsdiskussion der HU diskutieren (v.l.n.r.) Jörg Arnold, Rosemarie Will und Florian Grams. (Foto: Laura Schiller)

„Solange wir in der Situation sind, triagieren zu müssen, werden immer falsche Entscheidungen getroffen“, stellte Dr. Florian Grams klar. Bei einer Podiumsdiskussion ging es um die Gefährdung behinderter Menschen im Falle von Triage.

Neben dem Historiker hatten sich Referenten aus Recht und Medizin sowie Funktionäre des Gastgebers Humanistische Union (HU) am Samstag (17. September) im Stadtverordnetensitzungssaal versammelt. Die Veranstaltung mit dem Titel „Endstation Triage“ lief unter der Schirmherrschaft von Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies, der ebenfalls an der Diskussion teilnahm.
Zu einer Triage kommt es beispielsweise im Katastrophenfall. Es stehen zu wenige Ressourcen zur Verfügung, um alle Patienten gleichzeitig zu versorgen. In einem solchen Fall muss entschieden werden, wer zuerst behandelt wird, und für wen nur eine inadäquate oder sogar gar keine Behandlung bereitgestellt werden kann. Dabei wird oft nach Überlebenswahrscheinlichkeit „sortiert“.
Während der Corona-Pandemie kam es in mehreren Ländern zu großflächiger Triage, da oft zu wenig Beatmungsgeräte oder Intensivbetten zur Verfügung standen. Gerade unter Menschen mit Behinderung machte sich die Furcht breit, aufgrund ihrer Beeinträchtigung keine Behandlung zu bekommen.
Das hängt mit der sogenannten Komorbidität zusammen. Sie beschreibt den Zustand, wenn eine oder mehrere zusätzliche Erkrankungen zu der Grunderkrankung hinzukommen, die für die Behandlung relevant sind, wie der Intensivmediziner Dr. Kai Löwenbrück aus Dresden erklärte.
Eine Behinderung kann zu vorschnellen Schlüssen auf kürzere Lebensdauer leiten und zu Benachteiligung führen, erläuterte ehemalige brandenburgische Verfassungsrichterin Prof. Dr. Rosemarie Will. Dabei soll es eigentlich um Chancen bei der akuten Behandlung gehen.
Deswegen legte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Dezember 2021 fest, dass bei einer Triage nicht nach Faktoren wie Behinderung, Alter, Geschlecht und sozialer Status diskriminiert werden darf. Im Rahmen der angekündigten Änderung des Infektionsschutzgesetzes wurde festgelegt, dass nur die aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeiten von Bedeutung sein dürfen, erklärte Will. Außerdem sollen zwei bis drei Ärzte gemeinsam entscheiden, und bei Komorbidität noch Fachexperten dazu holen.
„Dieser Gesetzesentwurf ist hoch zynisch“, kritisierte allerdings Löwenbrück. Da er im Infektionsgesetz steht, ist er auf eine Pandemie beschränkt. Ein nächster Katastrophenfall sei aber viel wahrscheinlicher Klima-bezogen, zum Beispiel eine extreme Hitzewelle oder eine Flut. Wie bei solchen Situationen Ressourcen verteilt werden, sei in der Gesetzgebung „sehr schwach geregelt“, sagte Löwenbrück.
Die Ressourcenverteilung stellte sich generell als einer der größten Diskussionsthemen bei der Veranstaltung heraus. Löwenbrück sprach sich dagegen aus, dass weiter in mehr Intensivbetten investiert wird, da es in Deutschland schon genug gebe. Vielmehr sollten mehr Therapieplätze geschaffen werden.
Die Pflegefachkraft Gisela Lind konnte diesen Vorschlag nicht unterstützen. Sie beklagte, dass den Intensivstationen häufig die Schließung drohe. Sie sprach sich für mehr Ressourcen und vor allem für mehr Pflegekräfte aus, um allen gerecht zu werden. Aufgrund von Fachkräftemangel arbeiteten medizinische Fachkräfte oft bis zur Selbstzerstörung.
Außerdem kritisierte Grams die Gegenüberstellung von Beatmungsgerät und Therapeut. „Wir können und wir müssen gesellschaftlich entscheiden, wofür wir Geld ausgeben“, sagte er. Er schlug vor, dass, anstatt die Ressourcen im Gesundheitssystem umzuverteilen, lieber weniger Finanzen an Aufrüstung und Bundeswehr gehen sollen.
„Krankenhäuser sind keine Wirtschaftsbetriebe“, bemerkte Oberbürgermeister Spies. Der Marburger HU-Regionalvorsitzende Franz-Josef Hanke fügte hinzu dass das Gesundheitswesen vielmehr als lebensnotwendige Infrastruktur angesehen werden soll. Gerechte Ressourcenverteilung solle deshalb nicht mehr von wirtschaftlichen Faktoren abhängig gemacht werden, darin waren sich die Referenten einig.
Einer der wichtigsten Punkte der Debatte war die moralische Seite des Triage-Dilemmas. Ob ausgewählt oder randomisiert wird, die Entscheidung sei immer unmenschlich, bemerkte Moderator Dr. Wolfgang Grams. Spies meinte, dass die gesellschaftlichen und moralischen Werte bei der Triage klar sein müssten, schließlich ginge es ums Handeln, nicht um die Regeln.
Der Strafrechtswissenschaftler Prof. Dr. Jörg Arnold konterte, dass die Werte nicht klar seien, und dass das ethische Dilemma nicht mit Ressourcen aufzufüllen sei. Florian Grams erwähnte, dass nicht nur die Werte, sondern auch die Regeln stimmen müssen: „Wenn Menschen gegen Menschen abgewogen werden, sind wir auf einer ganz gefährlichen Bahn“.
Solche Regeln werden zum Beispiel von der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) festgelegt, wie Löwenbrück erläuterte. Sie sei nicht unfehlbar, aber sie benenne Konfliktpunkte in ihren Leitlinien, die im Gesetzesvorschlag nicht vorkommen. So darf nicht diskriminiert werden, aber es darf auch nach Komorbidität entschieden werden.
Arnold drückte seine Unzufriedenheit mit den Leitlinien aus, da das Randomisierungsverfahren möglicherweise das einzig richtige Verhalten im Triage-Fall sein könnte. Will stellte klar, dass das Aufstellen solcher Regeln allein Aufgabe des Staates sein könne.
In der Randomisierungs-Diskussion wurden sich die Referenten nicht einig. Die Randomisierung verteilt die Ressourcen zufällig oder lost sie aus, anstatt die Ärzte entscheiden zu lassen.
Löwenbrück erwähnte, dass sonst bei ärztlichen Entscheidungen immer die Gefahr von Diskriminierung bestünde. Wenn man alle Leben gleichbehandelt, „kann man nur losen“, sagte er.
Arnold schloss sich dem an, da so die Ärzte entlastet werden könnten. Hanke drückte bei dieser Debatte sein Unbehagen aus, Auslosen fühle sich für ihn an wie eine „Lebenslotterie“.
Will schlug vor, lieber Ärzte fortzubilden, um ihnen Richtlinien für den Entscheidungsprozess zu geben. Den Problemen soll sich stattdessen inhaltlich gestellt werden, man soll „den Mut haben, nicht zu würfeln“.
Gegen ein Auswahlverfahren nach Kriterien wie dem gesundheitszustand sprach zudem die Angst, aufgrund von Komorbidität vernachlässigt zu werden. Löwenbrück stellte zwar anfangs dar, dass ein Los auch ungerecht ausfallen würde, wenn zum Beispiel ein alter Mann das Beatmungsgerät bekommt, anstatt der junge Familienvater. Florian Grams stellte allerdings richtig, dass es sich auch um gleichaltrige Familienväter handeln könnte, nur säße vielleicht einer von ihnen im Rollstuhl. Beide sollten die gleichen Chancen auf Behandlung bekommen.
Die Referenten blieben unentschlossen, welches Verfahren richtig sei. In der großen Frage Auswählen versus Losen kamen sie auf keinen Konsens. Die Diskussion zeigte auf, dass es für diesen Problematik keine wirklich gute Lösung gibt.
Allerdings möchte die HU dem Gesetzgeber mit einer eigenen Stellungnahme zu seinem Entwurf Lösungsvorschläge für eine verfassungskonforme Regelung unterbreiten. Unter den schlechten Lösungen möchte sie diejenige mit dem geringsten Diskriminierungspotenzial suchen. Abschließend bleibt zu hoffen, dass es nicht mehr zu einer großflächigen Triage-Situation kommen wird.

* Laura Schiller