Im Krokodil: Bier und Döhner in Weidenhausen

Von 1986 bis 1992 wohnte ich in Weidenhausen. Das „Krokodil“ war damals mein Stammlokal.
„Das Krokodil ist mein Wohnzimmer“ sagte mein Kollege Wolfgang. Er wohnte an der Weidenhäuser Straße schräg gegenüber von seiner Lieblingskneipe. Ich wohnte damals ein Stück weiter die Straße entlang auf der selben Straßenseite wie das „Krokodil“.
Im „Krokodil“ saß man auf gepolsterten Bänken an runden Holztischen. Ein Stuhl stand auch an jedem Tisch, selten aber zwei oder drei.
Im „Krokodil“ gab es hervorragende Döhner. Meist bekamen wir sie von Kira serviert. Die Studentin kann den Hörsaal kaum gesehen haben während der Jahre, wo sie im „Krokodil“ bediente.
Hinter dem „Krokodil“ dehnte sich ein baumbestandener gekiester Platz aus bis zur Straße „Auf der Weide“. Früher mag er wohl als Biergarten gedient haben, doch in den 80er Jahren wurde er als Parkplatz genutzt.
Das „Krokodil“ war damals eins von vier Lokalen an der Weidenhäuser Straße. In ihren besten Zeiten soll die Gasse ganze 14 Gaststätten beherbergt haben. Ende der 80er Jahre waren es zwei türkische Gaststätten und ein Café sowie am hinteren Ende bei Sankt Jost noch eine Nachtbar.
„Seit wann habt Ihr denn dieses schöne Krokodil über der Tür“, wollte Wolfgang wissen. „Das ist aus Styropor“, erklärte Kira. „Die Fernsehleute haben es für die Dreharbeiten angebracht.“
Für sein Vorabenddprogramm drehte der Hessische Rundfunk (HR) damals eine Krimiserie. Die Ermittler waren Beamtinnen und Beamten der „Ermittlungsstelle für unanbringliche Briefsendungen“ in Marburg nachempfunden. Die Fälle hatte das Autorenteam von Bedienten dieser Behörde im Postgebäude an der Zimmermannstraße erzählt bekommen.
Das Stammlokal der „Ermittler“ in dieser Fernsehserie war das „Krokodil“ an der Weidenhäuser Straße. Dort drehte das HR-Team einige Szenen für seine Krimis. Auch nach dem Ende der Fernsehserie blieb das „Krokodil“ aus Styropor über der Tür der Gastwirtschaft gleichen Namens hängen.
Im Sommer 1992 besuchte mich ein Kollege aus Berlin. Christian brachte Arwed mit. Der Journalist hatte ihn bei Recherchen für einen Dokumentarfilm kennengelernt.
Arwed hatte „Morbus Chorea Huntington“. Früher wurde diese erbliche Krankheit auch „Veitstanz“ genannt, weil in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet ein beklemmender Brauch herrschte: Wer diese „Zappelkrankheit“ hatte, musste jedes Jahr am Sankt-Veits-Tag auf einem schmalen Steg über ein tosendes Wildwasser gehen.
War die Krankheit weit vorangeschritten, gelang es den Erkrankten nicht mehr, den Wildbach zu überqueren; und sie stürzten hinein. Die Holländer, wo „Chorea Huntington“ bereits früh verbreitet war, ließen die Gestürzten im Wildwasser ertrinken. Das war ihre – vermeintlich „gnädige“ – Selektion derjenigen, die nach und nach die Kontrolle über ihre Bewegungen verloren.
Arwed besaß die Kontrolle über seine Arme und Beine auch nur in geringem Maße. Er fuchtelte mit den Händen herum und hüpfte immer auf und ab. Die ganze Nacht über machte ich während seines Besuchs kein Auge zu, weil ich die Besuchercouch im Nebenzimmer immer im Takt wummern hörte wegen seiner zitternden Hände und Füße.
Gemeinsam gingen Arwed, Christian und ich ins „Krokodil“. Obwohl Arwed mit „Sozialhilfe“ auskommen musste, wollte er es sich nicht nehmen lassen, die Rechnung für uns drei zu begleichen. 200 DM hatte er in seine Hemdtasche geschoben und griff nun mit zittrigen Fingern danach.
Alle Scheine fielen zu Boden. Sofort sprang Kira herbei und hob sie auf. Dann wollte sie sie Arwed in die Hand zählen, der ihr jedoch – zu Recht – blind vertraute.
Kira steckte das Geld in einem Briefumschlag in Arweds Tasche und reichte ihm einen Schein, den er in seine Hemdtasche schob. Danach schoben wir ab. Die nächsten Tage ging Arwed schon vormittags ins „Krokodil“, wo er sich inzwischen mit Kira und meinem Kollegen Wolfgang angefreundet hatte.
Nach seinem Besuch habe ich Arwed nie wiedergesehen. Den Kurzfilm „Das falsche Gen“ von Jörg Gfrörer habe ich auch nie gesehen. Aber Kira und Wolfgang traf ich Anfang der 90er Jahre mindestens einmal die Woche im „Krokodil“.
Ende 1992 zog ich dann aus meiner kleinen Zwei-Zimmer-Bude in einem Fachwerkhaus an der Weidenhäuser Straße in eine größere Wohnung. Deshalb kam ich nur noch selten ins „Krokodil“. 1995 aß ich zum letzten Mal an kleinen runden Metalltischchen auf der Weidenhäuser Straße türkische Spezialitäten des „Krokodils“.
Seine Besitzer wechselten. Auch Kira war weg. Die Atmosphäre veränderte sich immer mehr weg vom Speiselokal hin zur Bierkneipe.
Später wurde das Lokal an der Weidenhäuser Straße zum afrikanischen Restaurant. Dann wurde es tzur „Musikkneipe“. In meinen Erinnerungen gehört das „Krokodil“ jedoch zu den unvergesslichen legendären Lokalen in Marburg.

* Franz-Josef Hanke