Einmal um die Achse: Das Gehirn schaut unbewusst voraus

Wo geht es hin? Das Hirn schaut unbewusst voraus.

Die Marburger Neurophysik zeigt, wie die Verarbeitung von Sinnesreizen dabei hilft, schnell zu reagieren. Das menschliche Gehirn nimmt Änderungen der eigenen Bewegungen wahr, bevor sie ins Bewusstsein dringen. Das versetzt Menschen in die Lage, die Bewegungsrichtung nötigenfalls blitzschnell anzupassen, unabhängig vonder Aufmerksamkeit.
Zu diesem Ergebnis gelangt eine Marburger Forschungsgruppe aus der Neurophysik durch Experimente mit menschlichen Versuchspersonen, deren Resultate sich auch auf Rhesusaffen übertragen lassen. Das Team berichtet darüber in der Fachzeitschrift „Progress in Neurobiology“.
„Stellen Sie sich vor: Sie fahren auf der Autobahn, beantworten Fragen der Kinder von der Rückbank, während Sie gleichzeitig die richtige Abfahrt zu finden versuchen“, erklärte Dr. Constanze Schmitt. „Sich durch den Raum zu bewegen, ist oft eine anspruchsvolle Aufgabe.“
Die Neurowissenschaftlerin war federführend an der Studie beteiligt. „Wir müssen dabei verschiedene Sinnesreize kombinieren und die Bewegung möglicherweise anpassen, um in der Spur zu bleiben“, erläuterte sie.
Das Forschungsteam ging von der Vorstellung aus, dass eine unbewusste Vorhersage von Sinnesreizen dazu beiträgt, die Reaktion auf unerwartete Ereignisse zu erleichtern. Das gilt zum Beispiel für die Reaktion auf eine überraschende Änderung der Bewegungsrichtung. Wie spiegelt sich die Abweichung von einer erwarteten Eigenbewegung im Gehirn wider?
Um das herauszufinden, untersuchte das Team die Hirnaktivität, indem es Hirnströme mittels Elektroenzephalografie (EEG) maß. „Eine bestimmte Komponente des Elektroenzephalogramms gilt als Kennzeichen für unbewusste Wahrnehmungsprozesse von Sinnesreizen, also von Hirnreaktionen, die Sinnesreize anzeigen, ehe diese ins Bewusstsein dringen“, erläuterte Jakob Schwenk. Er ist ein weiterer Leitautor der Studie.
Abweichende Reize führen zu einer anderen Reaktion als Standardreize – wird eine Abfolge solcher Standardreize durch unvorhergesehene Signale unterbrochen, so weist das EEG ein charakteristisches Muster auf in Form eines verstärkten Ausschlags.
Neurowissenschaftler sprechen dann von „Mismatch-Negativität“ (MMN). Worin die neuronale Basis der MMN besteht, ist nach wie vor umstritten.
„Mit unserer Studie überprüfen wir die Hypothese, der zufolge visuell basierte Steuerung ultraschnell und unabhängig von der Aufmerksamkeit verarbeitet wird, was durch das Auftreten einer MMN angezeigt wird“, führte der Neurophysiker Prof. Dr. Frank Bremmer aus, der die Forschungsarbeit leitete. Das Team präsentierte den Versuchsteilnehmerinnen und -teilnehmern ein zufälliges Muster aus Punkten, das den Betrachterinnen und Betrachtern vorspiegelt, sie würden sich durch einen Raum bewegen, meistens in ein- und dieselbe Richtung. In einigen wenigen Versuchsdurchgängen hingegen erfolgte die Eigenbewegung in eine andere Richtung.
Obwohl das Forschungsteam die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden durch eine Verhaltensaufgabe ablenkte, fand es ein starkes Hirnstrom-Signal für abweichende Eigenbewegungen. Bei den zwölf menschlichen Probandinnen und Probanden beobachtete das Team eine MMN, die 110 Millisekunden nach dem Start der Eigenbewegung einsetzte; bei Affen begann die MMN bereits nach 100 Millisekunden.
„Da die MMN weitgehend unbeeinflusst von der Aufmerksamkeit der Probanden war, kann die Verarbeitung von Eigenbewegungsinformation als Aufmerksamkeits-unabhängig angesehen werden“, schlussfolgert die Forschungsgruppe. „Alles in allem unterstützen unsere Befunde die Vermutung, dass Vorhersagen sich darauf auswirken, wie wir visuelle Eigenbewegungseindrücke verarbeiten.“
Dass das auch für Affen gilt, spricht aus Sicht des Teams nicht nur dafür, dass eine unbewusste Verarbeitung von Eigenbewegungen ein allgemeines Merkmal aller Primaten ist. Vielmehr eröffnet der Befund auch die Möglichkeit, in Studien an Affen zu erforschen, worin die zelluläre Basis der MMN besteht.
Die Neurowissenschaften zählen zu den Profilbereichen der Philipps-Universität. Bremmer leitet hier die Arbeitsgruppe Angewandte Physik und Neurophysik. Der Physiker ist Gründungsdirektor des mittelhessischen Forschungszentrums „Center for Mind, Brain and Behavior“ (CMBB), in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universitäten Marburg und Gießen zusammenarbeiten.
Außerdem amtiert er als Sprecher des Internationalen Graduiertenkollegs 1901 der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Thema „The Brain in Action“, gehört dem Vorstand des Sonderforschungsbereichs 135 der DFG zum Thema „Kardinale Mechanismen der Wahrnehmung“ an und ist Ko-Sprecher des Clusterprojekts „The Adaptive Mind“ (TAM), das das Hessische Wissenschaftsministerium kürzlich eingerichtet hat. Die DFG und das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst (HMWK) haben die Forschungsarbeit gefördert.

* pm: Philipps-Universität Marburg

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