„Das Jammern ist der Gruß der Kaufleute“, sagt ein arabisches Sprichwort. Demnach müsste Deutschland ein Volk von Kaufleuten sein.
Gerade während der Corona-Pandemie ist von allen Seiten nur Jammern zu hören. Das – oft selbstmitgleidige – Gejammer nimmt mehr und mehr überhand. Jede Jammernde und jeder Jammerer ist selbst genau derjenige, den die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie am allerschlimmsten treffen.
Natürlich gibt es viele Ungerechtigkeiten während der Pandemie. Unbestreitbar trifft sie Künstlerinnen und Künstler besonders hart. Ohne Zweifel hat sie viele Menschen in ihrer materiellen Existenz wie auch in ihrer psychischen Gesundheit auf´s Heftigste getroffen.
Gerade für Kinder und Jugendliche wird die Erfahrung des Lockdowns möglicherweise lebenslange psychische Folgen haben. Auch das Pflegepersonal und Angehörige von Opfern werden ihr Leid noch lange beklagen müssen. Die Corona-Pandemie war eine verheerende Katastrophe, die nicht ohne Folgen bleiben wird.
Trotzdem ist ein wenig Demut angebracht: Während die Menschen in Deutschland über einen Mangel an Impfstoff und lange Wartezeiten auf einen Impftermin schimpfen, haben viele Mitmenschen in Afrika, Indien oder Brasilien kaum eine Chance auf eine Impfung. Im Fall einer Ansteckung mit dem Coronavirus haben viele von ihnen auch keinerleich Chance auf eine medizinische Behandlung im Krankenhaus.
„Jammern auf hohem Niveau“ könnte man das nennen, was sich in Deutschland mitunter abspielt. Angesichts der Erfahrungen und Erlebnisse der Kriegsgeneration ist das Verhalten vieler jüngerer Menschen ein krasser Gegensatz zur Leidensfähigkeit und zur Härte gegen den eigenen Schmerz bei manchen Älteren.
Natürlich muss man nicht einfach alle Schmerzen in sich verkapseln und die Zähne zusammenbeißen wie es diejenigen oft getan haben, die einen oder gar zwei Weltkriege miterleben mussten. Auch ihr Schweigen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war leider nicht nur der Schutz vor eigenen inneren Verwundungen, sondern zugleich auch der Schutz der Massenmörder und ihrer willigen Mitläufer. Jammern und Klagen kann etwas Heilsames haben und sollte darum nicht unterbleiben.
Dann jedoch muss die Phase folgen, in der alle die Ärmel hochkrempeln. Zunächst muss da eine Impfnadel hinein; und dann muss die Gesellschaft miteinander reden über die Fehler, die vielleicht nicht alle vermeidbar gewesen sind. Niemand hätte in dieser Krise eine Politik ohne Fehlleistungen umsetzen können!
Doch wenn das irgendwann wieder möglich ist, müssen sich alle an einen Tisch setzen und über ihre Erfahrungen reden. Sie müssen die Verwundungen aussprechen und miteinander besprechen wie Wunderheiler, damit die Wunden heilen können. Vor allem aber können sie dadurch künftige Fehler vermeiden.
Nach zwei längeren Phasen von Lockdown und Todesängsten sowie der Realitätsverweigerung mit Hilfe von Verschwörungsmythen steht die Demokratie dicht vor dem Abgrund. Die nächste Katastrophe brennt allen bereits auf die Köpfe herab. Ein „trumpisierter“ Wahlkampf nimmt allmählich Fahrt auf.
Die Gesellschaft braucht nun Tatkraft und Ermutigung. Was Marburg während der Pandemie ausgezeichnet hat vor vielen anderen Städten, war ein gewisser Pragmatismus. An seine Seite muss nun das Zuhören treten, das alle ihren Mitmenschen nun schulden.
Die Gesellschaft muss nun gemeinsam die Scherben des epidemiologischen Erdbebens aufräumen und ihre Zukunft demokratischer und krisenfest umbauen. Das ist sie den Toten und all denen schuldig, die monatelang um ihre Lieben, ihre Existenz und ihre Zukunft gebangt haben.
* Franz-Josef Hanke