„Impfstoff für alle – BioNTech & Co. enteignen!“ lautete das Motto einer Demonstration am Sonntag (6. Juni). Am frühen Nachmittag zog sie durch Marburg.
Gegen 14 Uhr versammelten sich die Demonstrierenden zu einer Auftaktkundgebung vor dem Hauptbahnhof. Von dort zogen sie anschließend durch die Bahnhofstraße, die Elisabethstraße und die Ketzerbach sowie den Marbacher Weg und die Emil-von-Behring-Straße zur Impfstoffproduktion der Firma BioNTech in Marbach. Vor dem Gelände der ehemaligen Behringwerke hielten sie eine weitere Kundgebung ab, bevor sie auf den gleichen Weg wieder zurück zur Stadt liefen, über den sie gekommen waren.
Ihre Forderung „Impfstoff für alle“ ist sicherlich richtig. Ob allerdings die Idee, BioNTech und andere Impfstoffhersteller zu enteignen, die Menschheit diesem Ziel näherbringen wird, darf bezweifelt werden. Selbst die berechtigte Debatte über die Aussetzung von Patenten auf Impfstoffe wird nicht ohne Grund kontrovers geführt.
Die Herstellung von Impfstoffen ist eine komplexe Angelegenheit. Gerade die neuartigen MRNA-Impfstoffe wie der von BioNTech erfordern nicht nur modernste Technik und entsprechendes Wissen, sondern auch penibelste Sorgfalt beim Herstellungsprozess. Kleinste Verunreinigungen des Produkts können tausendfach tödlich enden.
Hinzu kommen Lieferengpässe bei Ausgangsprodukten und ein Bedarf an qualifiziertem Personal für den reibungslosen Betrieb der Produktionsstätten wie auch für die komplexe Logistik einschließlich der notwendigen Kühlung des Endprodukts und seines ordnungsgemäßen Transprorts zu den Impfenden. All das muss bei der Forderung nach Enteignung oder dem Aussetzen von Patentrecchten bedacht werden.
Schließlich arbeitet BioNTech bereits daran, einen erneuerten Impfstoff gegen das Coronavirus herzustellen, der auch die Mutationen Alpha, Beta, Gamma, Delta und Kappa erfolgreich ausschaltet. Das Marburger Werk könnte seine Produktion auf einen „runderneuerten“ Impfstoff innerhalb von sechs Wochen umstellen. Weltweite Patente auf Vaccine gegen die Vorgängervarianten des Coronavirus wären dann nicht mehr allzuviel wert.
Ohnehin befinden sich Impfstoffproduzenten wie BioNTech derzeit ebenso in einem dicken Dilemma wie Politisch Verantwortliche und Gesundheitsfunktionäre. Einerseits drängen die Impfwilligen in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) sowie Kanada auf eine rasche Durchimpfung möglichst großer Teile der jeweiligen Gesellschaften; andererseits haben Staaten in Afrika oft noch keine einzige oder nur sehr wenige Impfdosen erhalten. So entsteht eine ganz besondere Form von „Triage“, die die Menschen einteilt in Europäer und Nordamerikaner einerseits, reiche Oberschichten in Afrika, Asien und Lateinamerika andererseits sowie zuletzt die Armen in Afrika, Indien oder anderen benachteiligten Ländern, die weder eine Chance auf Impfstoff erhalten noch eine umfassende medizinische Behandlung im Ansteckungsfall.
Eine Enteignung beispielsweise von BioNTech würde den benachteiligten dort jedoch nicht helfen, sondern vielmehr die Kompetenz, Kreativität, Entscheidungskraft und Expertise, Wagemut und Wandlungsfähigkeit der Impfstoffentwickler Prof. Dr. Özlem Türeci und Prof. Dr. Ugur Sahin „bestrafen“. Geholfen wäre mit der Durchsetzung einer solch ideologischen Forderung niemandem. Ihre Verwirklichung würde eher zu weniger Impfstoff führen als zu mehr.
Wünschenswert ist allerdings schon, dass Impfstoffe kein „normales“ Wirtschaftsgut zur Gewinnmaximierung sind. Nachdem die Europäische Union (EU) sie mit dreistelligen Millionenbeträgen schon lange vor ihrer Marktreife gefördert hat, sollten die so finanzierten Impfstoffe als eine Art „Gemeingut“ gelten, das die Hersteller allen Interessierten möglichst günstig zur Verfügung stellen. Da könnte der Marburger Arzt und Immunologe Prof. Dr. Emil von Behring als Vorbild wirken, der seine Impfstoffe gegen Tetanus und Diphterie im 1. Weltkrieg allen interessierten Ländern Europas zur Verfügung gestellt hat.
* Franz-Josef Hanke