„unser Projekt Nearly close enough to kiss No.2 wurde verboten“, berichtet das Theater neben dem Turm (TNT). vor genau einem Jahr hatten die Marburger Theaterleute wir ein Bühnenbild aufgebaut.
Schon am nächsten Tag haben sie es wieder abgebaut und die Veranstaltung abgesagt. „Das ganze folgende Jahr haben wir solidarisch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie mitgetragen und ertragen und haben Formate entwickelt, die trotz Beschränkungen lebendige Begegnungen und Live-Erlebnisse möglich gemacht haben“, berichten die Theaterleute. „Jetzt stehen wir wieder vor einem Scherbenhaufen.“
Das TNT verweist auf die Werbung im Radio: „Das Auffällige an Radiowerbung ist, dass immer Menschen vor lauter Begeisterung schreien. Sie schreien, weil es etwas Tolles zu gewinnen gibt oder weil es etwas Tolles zu kaufen gibt oder weil sie etwas Tolles erfahren haben. Seit einigen Tagen schreien sie besonders laut.“ Möbelhäuser schreien. Elektromärkte schreien. Der ganze Einzelhandel schreit.
Man darf bei ihnen allen anrufen und einen persönlichen Termin vereinbaren, man darf sich zu diesem Termin mit einem Berater oder einer Beraterin treffen. Man bekommt alles gezeigt und wird umfassend beraten und informiert.
Und jetzt kommt so ein unverschämtes Theater daher und bietet ein Format an, „das exakt auf dem gleichen Konzept beruht“, schreibt das TNT. Man darf im Theater anrufen – als Einzelperson oder als Paar- und darf einen persönlichen Termin vereinbaren. Man darf sich zu diesem Termin mit einer Künstlerin oder einem Künstler für eine Viertelstunde in einer leeren ehemaligen Videothek treffen und bekommt etwas erzählt oder gezeigt.
Das alles geschieht laut TNT „mit einem Hygienekonzept, das kein Möbelhaus oder Elektromarkt schafft. Der Mindestabstand zwischen Besucher*in und Künstler*in beträgt 8 Meter und die jeweiligen Künstler*innen lassen sich vorher testen.“
Das Ordnungsamt und das Gesundheitsamt sehen eine Infektionsgefahr „als kaum gegeben“ an, wollen aber nicht alleinverantwortlich die Genehmigung erteilen. Also wurde das Dezernat 32 „Bauaufsicht, Wohnungswesen und Gewerbe“ im Regierungspräsidium (RP) Gießen befragt.
Dort wurde entschieden, dass das Projekt „entweder als nicht zulässige Veranstaltung (mangels besonderem öffentlichen Interesse) oder aber als zur Zeit ebenfalls nicht zulässige Theateraufführung anzusehen ist. „Nearly close enough to kiss No.2″ darf also nicht stattfinden.
“ Wären wir das Möbelhaus neben dem Turm, gäbe es kein Problem, aber leider heißen wir Theater neben dem Turm“, bedauern die Theaterleute. „Und jetzt schreien wir auch, nur eben nicht vor lauter Begeisterung, sondern aus purer Verzweiflung.“
Dabei geht es dem TNT weniger um die wieder einmal umsonst geleistete Arbeit, sondern um den absoluten Mangel an Sensibilität und Differenzierungsvermögen beim Beurteilen eines Vorhabens. „Das ganze Gerede von Systemrelevanz und von Kunst und Kultur als Lebensmittel – von manchen sicherlich auch so gemeint – entlarvt sich im konkreten Fall als einfach nur hohl. Was bleibt ist ein fades Gefühl von Geringschätzung und Ignoranz.“
* pm: Theater neben dem Turm