„Mehr bezahlbarer Wohnraum ist meine wichtigste Forderung für die Stadtentwicklung“, erklärt Renate Bastian. Die 76-jährige Journalistin kandidiert am Sonntag (14. März) für die Linke als Oberbürgermeisterin.
Seit vielen Jahren gehört Bastian mit mehreren Unterbrechungen der Stadtverordnetenversammlung (StVV) an. Die kommunalpolitischen Themen sind der Fraktionsvorsitzenden der Marburger Linken also seit langem vertraut.
„In den vergangenen Jahren ist ziemlich wahllos Wohnraum geschaffen worden“, erklärt sie. Bereits unter der rot-grünen Koalition und seither seien das oft hochpreisige Wohnungen gewesen. Große Investoren hätten die Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt bestimmt; in Marburg fehle jedoch Wohnraum für Familien mit geringen Einkommen und sozial benachteiligte Menschen.
In den Stadtteilen mangele es zudem an Räumen für Jugendliche und junge Erwachsene, wo sie ihre Freizeit verbringen und sich aufhalten könnten, ohne sofort Geld ausgeben zu müssen. Auch die kulturelle Stadtteilarbeit komme häufig zu kurz.
Die Sorge der Linken-Politikerin gilt vor allem den sozial benachteiligten Menschen in Marburg. „Während die Reichen ihr Vermögen auch in der Pandemie weiter vermehren, langt es für die finanziell Schwächeren hinten und vorne nicht“, beklagt sie. „Den Familien fehlt das Geld für die krisenbedingten Mehrausgaben. Die Kinder werden vielleicht mit Geräten für das Homeschooling ausgestattet, aber es fehlen die sozialen Zusammenhänge oder Möglichkeiten, sich auch unter den Bedingungen der Pandemie zur gegenseitigen Hilfe zu treffen.“
Bastian verweist darauf, dass jedes fünfte Kind in Marburg an der Armutsgrenze lebt. Doch niemand dürfe während der Pandemie oder auch später zurückgelassen werden.
„Alle wünschen sich Normalität zurück. Aber Normalität darf nicht eißen, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft weiter existiert und sich verstärkt“, erklärt Bastian. Die Corona-Krise biete die Chance, die bisherige Politik und ihre Folgen kritisch zu hinterfragen und neu auszurichten.
Ein Beispiel sei das Gesundheitswesen, wo deutlich werde, wie verhängnisvoll Privatisierungen sind und dass die Gesundheitsvorsorge in öffentliche Hand gehöre. „Das Coronavirus fördere die Ungerechtigkeiten der Gesellschaft wie unter einem Brennglas zutage, denn sie treffe Arme stärker als Reiche“, erläutert Bastian.
Hinzu kommen die drängenden Probleme des Klimawandels. „Alle dringend notwendigen Maßnahmen zum Klimaschutz müssen aber auch immer die soziale Frage berücksichtigen“, fordert die langjährige Gewerkschafterin. Gerade den sozial benachteiligte Menschen dürften nicht die Lasten der Krisen aufgebürdet werden.
Ein wichtiges Anliegen sind Bastian die geflüchteten Menschen, deren großzügige Aufnahme der Stadt von den oberen politischen Ebenen verboten wurde. „Das ist ein unglaublicher Skandal“, empört sich Bastian.
Die Situation von Geflüchteten kennt die Journalistin aus eigener Erfahrung. Geboren wurde sie im Sudetenland. Von dort kam sie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Westdeutschland.
„In dem unterfränkischen Dorf, in dem ich meine Kindheit verbracht habe, haben wir nie richtig dazugehört“, erinnert sie sich. Aus dieser Erfahrung versucht sie sich in die Nöte der Menschen mit Migrationserfahrung einzufühlen.
Nach Marburg kam Bastian 1966, um an der Philipps-Universität Politikwissenschaft, Soziologie und Osteuropäische Geschichte zu studieren. „Meine Russischkenntnisse sind leider eingerostet“, gesteht sie. „Die braucht man für osteuropäische Geschichte – ganz besonders die frühe sowjetische – Geschichte, die ist hochinteressant.“
Aber ihr Interesse gilt auchder Marburger Stadtgeschichte. „Ockershausen, wo ich mich heimisch fühle, galt als rotes Arbeiterdorf. Leider gibt es in Marburg aber noch kein Stadtmuseum, um dies alles zu dokumentieren.“
Aus der Geschichte zu lernen, hält sie für eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung der Zukunft. „Rechtspopulismus und Rassismus fußen auch auf mangelndem Geschichtsbewusstsein und mangelnder Aufarbeitung der Geschichte“, erläutert Bastian. „Dass wir in Marburg insgesamt ein Klima haben, das Rassismus und Neofaschismus in hohem Maße ablehnt, dazu haben auch die Linken beigetragen“, sagt sie.
Bei ihren Chancen zur Wahl als Oberbürgermeisterin setzt Bastian durchaus auf die Persönlichkeitswahl. „Ein gutes Ergebnis für mich ist eine große Stärkung der fortschrittlichen Positionen für die gesamte Legislaturperiode“, meint sie.
Die Marburger Linke habe immer wieder Anregungen ins Stadtparlament eingebracht, die später auch die anderen Parteien überzeugt haben. Als jüngstes Beispiel verweist Bastian auf die von allen Parteien gebilligte Einführung eines kostenlosen Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) zunächst probeweise an Wochenenden. Zumindest für die Inhaberinnen und Inhaber des Stadtpasses sollte die Nutzung der Stadtbusse ihrer Ansicht nach darüber hinaus generell kostenfrei sein.
* Franz-Josef Hanke